Die Dame auf dem Sonnendeck

Die Zahl der Hundertjährigen hat sich verdreifacht, habe ich gelesen.
Viele seien bis in hohe Alter aktiv und würden Pläne schmieden. Sie wüssten, dass und wie sie mit ihrer altersbedingt eingeschränkten Energie haushalten müssten. Sehkraft und Gehör hätten nachgelassen, manche hätten Gleichgewichts- oder Bewegungsprobleme, dennoch seien die meisten mit ihrem Leben zufrieden.

Letzteres schien auch für die unauffällig wirkende Dame auf dem Sonnendeck zuzutreffen.
Ob sie allein unterwegs war und hier oben die Flusslandschaft an sich vorüberziehen ließ?
Ein Mitreisender setzte sich zu mir an den Tisch. Bald werde er achtzig Jahre alt, hoffe aber, noch einige Reisen unternehmen zu können, verriet er mir. Ob er allein reise, fragte ich unbefangen. Nein, die ebenso unbefangene Erwiderung. Seine Mutter sei mit an Bord.

Hatte ich das mit den herannahenden achtzig Jahren falsch verstanden? Seine Mutter sitze dort drüben, bestätigte er. Eine Geste verwies auf die hinter ihm die Sonne genießende Dame. Nach deren Alter fragte ich nicht. Ohne meine Überraschung zur Kenntnis zu nehmen, erzählte der Sohn von seiner Mutter – von ihrer Lust auf Leben, ihrem Durchsetzungsvermögen, ihrem Bedürfnis nach Selbständigkeit.

Schönfärberei konnte es nicht sein, was der nicht ganz junge Sohn über seine betagte Mutter preisgab. Dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn Gedächtnisleistungen mit zunehmendem Alter nachlassen und helfende Hände anderer Personen willkommen sind, schien bei der alten Dame nicht vonnöten. Seniorenresidenz, Altenheim, Sanatoriums-Obhut, betreutes Wohnen – für sie keine in Frage kommende Einrichtungen.

Am Abend traf ich sie mit ihrem Sohn in der Lounge. In einem mir bekannten Seniorenstift sind die Bewohner abends um neunzehn Uhr müde und liegen wohlversorgt im Bett. Wer noch ein Bedürfnis verspürt und das zum Ausdruck bringen kann, schellt nach der Nachtschwester. Der Abend ist Teil der Nacht. Jetzt war es viel später. Die rüstig wirkende Seniorin genoss den Abend und den Cocktail. Mit Worten und Gesten gewährte sie Einblick in einige Stationen ihrer Lebensgeschichte.

Vor mir saß keine jung gebliebene Alte, sondern eine alt gewordene, alt aussehende, vom Leben gezeichnete Frau.
Sie war von gestern; das verbarg sie nicht. Aber sie lebte in der Gegenwart. Sie schien nicht gewillt, sich in Kürze daraus zu verabschieden. Viele Abschiede hatte sie hinter sich – von ihrem früh verstorbenen Mann, von ihren irgendwo in der Welt lebenden Kindern mit Ausnahme jenes Sohnes, mit dem zusammen sie diese Reise angetreten hatte. Viele Verzichte hatten ihr Leben geprägt. Ihr Leben hatte sich nicht im Sorglos-Paradies abgespielt. Aber sie hatte gelernt, damit umzugehen.

Die Tage auf dem Schiff täuschten nicht über Defizite hinweg, die sie erlebt und erduldet hatte. Ihr Verhalten verriet, dass sie nicht zu den Best-Ager-, Golden-Ager-Reisenden zählte, die sich Reiseunternehmen als zahlungskräftige Klientel in den „besten Jahren“ auf ihren Schiffen wünschen. Ob ihre besten Jahre zurücklagen, ob sie Jahre voller Glück und Seligkeit erlebt hatte, darüber hätte sie wahrscheinlich nicht laut nachgedacht.

Die Dame auf dem Sonnendeck war eine von mehr als hundert Reisenden auf dem Schiff, aber vor allem sie ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich habe sie bewundert.

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