Kirche zum Anfassen

Ein Missionar, der im brasilianischen Regenwald tätig war, stammte aus meinem Heimatort.
Wenn er Heimaturlaub hatte und die Messe in der Kirche unseres Tausendseelen-Dorfes feierte, war ich stolz, als Ministrant dabei sein zu dürfen. Messdiener seien Gott besonders nahe, versicherte der Pater. Davon spürte ich nichts. Dass man, wie der Pater behauptete, im Glauben gestärkt werde, wenn man regelmäßig den Gottesdienst an exponierter Stelle im Altarraum mitfeiere, blieb mir ebenfalls verborgen.

Mir genügte es, das Weihrauchfass schwingen und den großen Leuchter tragen zu dürfen. Das mache mich zum kleinen Kleriker, sagte der Pater. Dass Ministranten lateinische „clericetti“ seien, sagte mir nichts; es interessierte mich nicht besonders. Solche Vokabeln tauchten im Latein-Unterricht am Gymnasium nicht auf. Ich wurde erst aufmerksam darauf, als mir der Begriff „Kleriker“ Identifikations-Probleme bereitete.

Dass gut sechzig Jahre später auch Mädchen das Weihrauchfass schwingen würden, konnte der Pater nicht voraussehen. Ob das weibliche Geschlecht sogar für das Priesteramt in Frage kam, hätte er nicht zu fragen gewagt. Maßgebliche Vertreter der kirchlichen Hierarchie widersetzen sich nach wie vor solchem Nachdenken.  Priestertum der Frau ist gleichzusetzen mit „Irritation“ und „Verwirrung“. Dass man den Ausschluss von Frauen von kirchlichen Ämtern biblisch nicht begründen kann, spielt keine Rolle. Priestertum sei männlich, wird erklärt. Ein Papst habe endgültig für Klarheit gesorgt.

Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob Gott seine Pläne für die Kirche nicht revidieren und „Damenwahl“ bzw. priesterliche Frauen-Biographien zulassen wird, sofern man ihn nicht daran hindert.

Mir reichte es zu Messdiener-Zeiten, anschaulich Kirche zu erleben und glaubwürdiges Tun zu erfahren. Da waren die jährlichen Maiandachten vor dem mit Blumen geschmückten Marienaltar in der Dorfkirche. Dass die Gottesmutter Königin und Mutter der Barmherzigkeit sei und als solche verehrt werde, wie der Pfarrer verkündigte, hörte und überhörte ich. Ich konnte es wahrscheinlich nicht nachvollziehen. Mehr schätzte ich die Möglichkeit, aus unserem Garten stark riechende Fliederbüsche in die Kirche schleppen  zu können. Im Mai-Monat war das meine Lieblings-Beschäftigung. Der Marienaltar in der Seitenkapelle glich in dieser Zeit einem weißen oder violetten Fliederblüten-Meer.

Kirche zum Anfassen, zum Sehen und Riechen. Glauben mit allen Sinnen. Kein katholisches Theater, wie eine Nachbarin abschätzig äußerte. Ab und zu durfte ich mit dem Pater zusammen frühstücken. Priester zum Anfassen. Es gab Schinken und Käse, ein gekochtes Ei und Kaffee. Solche Frühstücks-Zutaten  kannte ich nicht einmal vom Hörensagen.

Als mich der Pater einlud, ihn in Brasilien zu besuchen, erwiderte ich folgerichtig, das habe keine Eile. Es faszinierte mich, dass er eine Flussreise auf dem Amazonas plante. Dass er mehrere Wochen auf ein Motorboot warten musste, dämpfte meine Reiselust. Im gleichen Jahr, in dem ich zum Priester geweiht wurde, starb der Urwald-Doktor Albert Schweitzer. Ihn hätte ich gern besucht.

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