Gnadenakt

pendeluhr

Zunächst waren die Hürden einer eidlichen Vernehmung zu überwinden. Würde es zum Verhör kommen? Würde der Prälat wie der Vertreter des Jüngsten Gerichts auftreten? In dem Parcours standen die Spielregeln fest: Ich befand mich in der Position des Bittstellers in der Abhängigkeitsschleife. Keine günstige Ausgangslage gegenüber einem übermächtig erscheinenden Gegner, der zudem Heimrecht genoss. Kirchenintern verstandene Gewaltenteilung. Keine Begegnung auf Augenhöhe.

Rechtsanspruch auf Dispens stand mir nicht zu. Es ging um ein Gnadengesuch, einen päpstlichen Gnadenakt.

Im günstigen Fall konnte ich „begnadet“, „begnadigt“ werden, obwohl ich mir nichts hatte zuschulden kommen lassen.

Die römische Behörde bediente sich eines himmlischen Gnadengeschenks. Der Rechtsapparat Kirche sah sich ermächtigt, in Anwandlung christlicher Nächstenliebe Großzügigkeit, Barmherzigkeit und Milde walten zu lassen. Oder auch nicht. Ein Unterwerfungsverhalten meinerseits war nicht zu erwarten. Ich dürstete nicht nach himmlischer Gnade.

Stand ein faires Verfahren in Aussicht oder eher ein Spießrutenlauf? Würde man wie mit dem Schrotgewehr Breitseiten von Vorwürfen gegen mich richten? Wollte man meine Belastbarkeit testen? Wie mitteilsam durfte ich sein?

Ich hatte nichts zu verbergen und nichts zu offenbaren. Wie traf ich den richtigen Ton? Was durfte ich preisgeben? Welche Eingeständnisse musste ich machen? Welche Antworten waren empfehlenswert, welche nicht, um nicht unerwünschte Nebenwirkungen heraufzubeschwören?

Eine Gratwanderung. Selbstschädigung wollte ich nicht betreiben. Nicht zu vertrauensselig zu sein, war mir als Kind eingeschärft worden. In der Kunst der Flucht war ich jedoch ungeübt.

War es vorteilhaft, dem Prälaten zu schmeicheln, ihn zu beweihräuchern, mit Engelszungen auf ihn einzureden? War es empfehlenswert, Komplimente zu verteilen und ihn günstig zu stimmen? Komplimente fördern die Karriere – hatte ich das nötig?

Stiegen meine Chancen auf den römischen Gnadenakt, wenn ich mich von meiner Hilflosigkeit überzeugt zeigte und mich demutsvoll der Heils-Agentur Kirche überließ? Empfahl es sich, den Weg des geringsten Widerstandes gehen?

Wenn es in der Vergangenheit dienstliche oder sonstige Probleme gegeben haben sollte, hatten sie kaum jemanden interessiert. Warum sie jetzt offenbaren, wenn es sie geben sollte? Von großer Nachsicht der Behörde war nicht auszugehen. Ich erwartete keine bevorzugte Behandlung, sondern wollte überzeugen mit Argumenten, Fragen und Wünsche formulieren. Eine Illusion, wie sich herausstellte.

Ich erschien nicht mit aufgewühlter Seele zum Verhör. Ich plante einen Neuanfang, ohne zu übersehen, dass  vieles von dem bleiben würde, was gewesen war. Der bisher eingeschlagene Weg hatte sich nicht als der allein selig machende erwiesen.

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