Ötzi war hier

Die Ötzi-World-Card hatte ich nicht gekauft. Ich konnte nicht ahnen, dass ich mit ihr im Ötzi-Shop, in der Ötzi-Show, beim Ötzi-Marathon jede Menge Preisvergünstigungen erhalten hätte. Die Ötzi-Trophäe hätte ich für die Hälfte erstanden. „Begegnen Sie Ötzi persönlich im einzigartigen Schautunnel in der Bergstation der Gletscherbahn“, stand auf dem Plakat. Mit der World-Card hätte ich ihn fragen können, wie er sich fühlt nach fünftausend Jahren im Eis.

Ins Südtiroler Schnalstal war ich gefahren. Mein Ziel war nicht Ötzi, sondern der beschauliche Ort „Unser Frau“ mit der Wallfahrtskirche. Um die Kirchenmauern herum schmiegt sich ein kleiner Friedhof. Die Gräber sind geschmückt mit kunstvollen Grabkreuzen aus Kupfer und Bronze, beredte Zeichen einer Kultur des Todes.

Dort, wo Ötzi in 3200 m Höhe am Tisenjoch gefunden wurde, wandeln alle auf seinen Spuren – auch die Kinder. „Damit sie Techniken und Spiele, Essen, Arbeit und Vergnügen wie vor 5000 Jahren miterleben können“, steht auf dem Plakat. Ich verspürte keine Lust auf Bogenschießen und Brotbacken, wollte keine Töpfe und Tiere aus Lehm formen, keine Messer und Feilen aus Ötzis Zeit herstellen. Warum sollte ich mich in den Alltag vor 5000 Jahren versetzen lassen, wenn auch die Gegenwart interessant war?

Da mir für die Gletschertour zur Fundstelle des ältesten Südtirolers Ausrüstung und Mut fehlten, blieb ich auf der Talstation der Seilbahn zurück. Die atemberaubende Fernsicht genoss ich von unten. Es gab viel zu sehen. Der ehemalige Alpengasthof hat sich in ein Skizentrum verwandelt. Die Gletscher garantieren ein schneesicheres Ganzjahres-Skigebiet. Bei einer Tasse Kaffee erzählte mir der Tischnachbar, dem Promotor des gigantischen Projektes sei das Werk über den Kopf gewachsen. Er sei Opfer ausufernder Spekulationen geworden und habe sich das Leben genommen. Ein kunstvolles Kreuz schmücke sein Grab auf dem Friedhof „Unser Frau“. Skifahrer kommen dort nicht vorbei.

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