Der Leichenschmaus

Beate hat die Bank entdeckt. Beate hat Realitätssinn. Wenn wir uns vor dem Fußball-Klassiker noch stärken wollen, dann hier, erklärt sie. Was Beate sagt, ist so. Marlene stimmt zu. Hendrik findet es cool. Papa holt die Marschverpflegung aus dem Auto.

Nudelauflauf in Tomatensauce, Lasagne bolognese, Pizza Margherita, Geschnetzeltes aus der Gemüsepfanne – es ist vorgesorgt. Invitare a mangiare – Beate lädt zum Essen ein. Benvenuto. Herzlich willkommen. Dass die edlen Gerichte in Plastikschalen serviert werden, findet sie praktisch. Wir müssen nicht spülen. Dass die Speisegaststätte aus einer Sitzbank besteht, hält Beate für unproblematisch. Dass Bänke kein typisches Möbelstück für ein Essvergnügen sind, schmälert die Gaumenfreuden nicht. Beate ist nicht wählerisch. Sitzbank, Parkbank, Küchenbank, Esszimmerbank – Essen hält Leib und Seele zusammen, auch auf einer Bank. Die Bank kommt gelegen. Sie steht auf dem Friedhof, unweit vom Stadion. Prima, sagt Beate. In fünf Minuten sind wir im Stadion. Mahlzeit! Si metta a suo agio. Macht es euch bequem. Catering auf der Friedhofsbank. Zwischen Kränzen und Kreuzen, neben Grabsteinen und Grablaternen Leichenschmaus beim Italiener.

Ungewohnt, sagt Papa. Kontaktpflege mit Verstorbenen, erklärt Beate. Wir leisten ihnen Gesellschaft. Sinti und Roma treffen sich an den Gräbern der Verwandten, besuchen die Ahnen, trinken einen Schnaps, essen ein Schnitzel. Familientreff auf dem Friedhof, sagt Beate. Lebende und Tote tauschen Nachrichten aus. Keine tröstliche Friedhofsruhe, betont Beate. Die Gräber der Lieben sind zubetoniert. Mobiltelefone und andere Gegenstände, die mit ins Grab gelegt wurden, sollen nicht gestohlen werden. Schande über die Grabräuber, ärgert sich Beate. Il menu, per favore.

Die  Speisekarte, Marlene. Come antipasti prendo. Was gibt es als Vorspeise? Beate ist für Nudelauflauf. Lies mal, was auf dem Grabstein steht, fordert sie Hendrik auf und rollt die Nudeln um die Gabel. Hendrik entfernt die Schlingpflanzen, die den Stein überwuchern. „Wir werden dich nie vergessen, Oma“, buchstabiert er. An Omas Grab ist lange niemand gewesen. Das hat Oma nicht verdient, ärgert sich Beate und lobt die Nudelsauce. Eccellente.

Der Wind weht Fanfarenklänge zur Friedhofsbank hinüber. Die Fangemeinde drängt zum Stadion. Es ist Zeit, die Fan-Klamotten überzuziehen. Bald betreten die Mannschaften das Spielfeld, mahnt Papa. Beate drängt zum Hauptgericht. Cosa ci consiglia. Was ist zu empfehlen? Papa und  Hendrik wählen Pizza, Mama ist für Geschnetzeltes, Marlene steht auf Lasagne. Bene, grazie. Danke. Die Nachspeise essen wir im Stadion, entscheidet Beate. Salute! Prost! Gut, dass wir nicht spülen müssen. Beate will dabei sein, wenn das erste Tor fällt.

Die Bank wird wieder zur Friedhofsbank. Kränze und Kreuze, Grabsteine und Grablaternen sind unter sich. A presto. Bis bald. Beate, komm bald wieder, raunt es von irgendwo her. Das Catering auf der Friedhofsbank lässt sich wiederholen.

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