Jeder Demenz-Kranke ist anders

Es ist still. Die Sonne scheint in den Raum. In einem Ohrensessel ist eine Bewohnerin eingenickt, schläfrig nach dem Mittagessen. Am Nachbartisch wird eine Obstschale  mit Konzentration aus- und wieder eingeräumt. Diese Konzentration störe ich nicht.

Der Tisch am Gang wird gründlich und ausdauernd gewischt, mit bloßer Hand. Ein sauberes, angefeuchtetes Wischtuch in die fleißige Hand gedrückt, macht das einen Unterschied? Allerdings! Wenn das Wischen auch ohne Tuch unaufhörlich weitergeführt wird, so wirkt der Bewohner mit dem Tuch in der Hand wesentlich entspannter. Sein Gesichtsausdruck ist weicher, seine Bewegungen und seine Atmung langsamer. Meistens mag er nicht sprechen, auch meinen Gruß erwidert er nicht, aber ich denke, er nimmt ihn wahr; denn er schaut auf, und wir haben kurzen Augenkontakt und damit Gelegenheit, einen freundlichen Blick zu wechseln.

Aus einer anderen Richtung des Flures höre ich ein immer wiederkehrendes Geräusch, das ich  kenne. Ein Herr hat sich mit seinem Rollator in der Ecke neben der Etagentüre festgefahren.  Ein Schritt zurück, Rollator aus der Ecke lenken, fertig. Eigentlich keine Überlegung wert. Aber der Kopf des Bewohners kann ihm diese simple Lösung nicht mehr anbieten. Einfache Dinge des Alltags hat eine dementielle Veränderung vergessen gemacht. Worte, die er spricht, verstehe ich nicht, aber ich kann ihren Ton deuten und die Mimik lesen. Hilflos schaut er jetzt drein. Manchmal kann ich meine Hand auf den Rollator legen, eine kleine Kurve fahrend die Ecke verlassen. Der Mann folgt mir, während er meinen ruhigen, deutlichen Worten zuhört.

Heute ist das anders. Ich darf sein Gefährt nicht anfassen. Eine abwehrende Handbewegung zeigt mir das deutlich. Das Stehen in der Ecke muss aber auch bald vorbei sein. Die Beine können es nicht mehr lange aushalten. Weil wir uns kennen, weiß ich, was immer gelingt.

Unsere Bewohner werden natürlich mit „Sie“ angesprochen, bis auf einige Ausnahmen. Eine davon ist diese Situation. Etwa einen Meter vom Bewohner entfernt, Arm und Hand ausstrecken, mit leichter Kopfbewegung zur Seite hin und lockender Stimme :“ Komm, na komm, gehen wir zusammen. Komm.“ Der alte Herr lässt vorsichtig den Rollator los und streckt mir langsam eine Hand  entgegen. Gemächlich  lässt er sich zu seinem Platz führen. Ich spreche dabei mit ihm, verstehe seine Antworten nicht. Das ist jetzt nicht wichtig. Wir gehen eingehakt gemeinsam den Flur entlang. Das gefällt ihm. Er kann das mimisch verständlich machen.  Den Rollator hole ich später nach. Dieser alte Mensch ist einem Impuls gefolgt. Das Locken hat er als Kind bei Vater und Mutter kennen gelernt. Dieser Impuls ist in seinem Urvertrauen zu Hause.

Über Erlebnisse, Wahrnehmungen und Empfindungen, die ein Mensch sogar schon vor seiner Geburt im Mutterleib gemacht hat, bleibt er auch bei weit fortgeschrittener Demenz bis zum Ende erreichbar. Techniken, die uns in den Stand setzen, diese Mechanismen zu kennen und zu nutzen, sind hilfreich für Betreuende und segensreich für Betroffene.

Der Schlüssel für alles, was wir mit und für diese schützenswerten Menschen tun, ist die Fähigkeit, uns in das Wesen des Anderen, mit all seinen Eigenheiten hineinversetzen zu können.

Mehr über Alltäglichkeiten mit ihren „Normalitäten“ und heiklen Momenten in einer Mönchengladbacher Pflegeeinrichtung demnächst wieder an dieser Stelle.  

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