Demenz hat ihre eigene Ordnung

Lautes schimpfen und schrille Schreie sind schon vor der Etagentüre zu hören. Krise!
Jeder der mit dementiell veränderten Menschen arbeitet, weiß was das bedeutet. Irgendetwas hat den Betroffenen aus dem Takt gebracht, seine Welt auf den Kopf gestellt. Er kann nur noch ausrasten. Was ist geschehen? Lässt sich die Situation retten?  

Das Bewohnerzimmer sieht aus wie nach einem Bombenangriff. Kleider, Wäsche , Schuhe, Zeitschriften, Fotos, alles überall im Raum verteilt. Mittendrin ein Rollstuhl der auf der Seite liegt und eine  Bewohnerin die, schreiend auf dem Boden sitzend, einzelne Teile aus dem Chaos um sich herum zusammenklaubt. In der offenen Tür, mit hängenden Armen, Tränen in den Augen, die Praktikantin, die in der letzten Woche hier angefangen hat. Die alte Dame ist ausser sich, die Praktikantin irgendwie auch. Was hat zu dieser Situation geführt?

Der Vormittag verlief ruhig. Alles war gut, bis die Bewohnerin ihre Schränke ausräumte, scheinbar einfach so. Danach lief sie eine Runde über den Flur, traf bei ihrer Rückkehr die hilfsbereite Praktikantin beim Aufräumen an. Die junge Frau wird fest am Arm gepackt und mit Kraft aus dem Zimmer gezogen. Mittagessen, Siesta, die ersten Bewohner werden zum Kaffeetrinken aus ihren Zimmern geholt. In einem bestimmten Raum ist wieder das Unterste zu Oberst gekehrt. Unsere junge Mitarbeiterin beginnt geduldig erneut damit, Ordnung zu schaffen. Und genau jetzt bricht der Orkan los. Treten, schlagen, schreien. Eine alte Dame im Ausnahmezustand.

Eine Begebenheit, wie sie in jedem Heim jeden Tag passiert, oft mehrmals.

Mehrmals geschieht das, weil Pflegende/Betreuende es gut meinen. Hält doch jeder eine gewisse Grundordnung mit seinen Dingen, also im Dienst auch in der Einrichtung.

Ein dementer Mensch macht kein „dummes Zeug!“ In seinem Kopf findet seine Welt statt, nicht unsere. Er hat seine Vorstellungen und Ideen, unsere sind anders. Kompatibel ist das oft nicht.

Ein dementer Mensch kann sich nicht mehr anpassen, er kann vielleicht nicht einmal mehr sagen, dass ich ihn in Ruhe lassen soll. Er lebt in seiner Welt und kann das nicht ändern. Wir müssen uns bewegen. Wir müssen uns in seine Welt hineindenken und fühlen.

Warum räume ich meine Schränke aus? Vielleicht will ich aussortieren? Vielleicht will ich aufräumen?

Das ist bei einem dementen Menschen nicht anders, sieht aber anders aus. Um im o.g. Beispiel zu bleiben: In diesem Fall werden wir immer wieder Krisen auslösen, wenn wir uns verhalten, wie wir das in unserer Welt tun. Wo steht geschrieben, dass im Zimmer eines Heimbewohners immer alle Schränke eingeräumt sein müssen? In unseren Köpfen steht das. Es ist unsere Vorstellung.
Lassen wir den Raum doch einmal wie er ist. Wenn ich merke, dass der Bewohner seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge gelenkt hat, kann ich mich an das Einräumen machen, vielleicht auch erst wenn er schläft, wenn das Schrankthema vergessen ist.

Hier sorgte diesmal eine große Tasse vom geliebten Kakao mit einem Sahneberg für Ablenkung und Ruhe. Manchmal muß es ein vom Arzt für Krisenfälle verordnetes Beruhigungsmittel sein.

Nicht jede Krise lässt sich ohne Medikament lösen, aber wir bräuchten weniger Chemie, wenn wir in unserem Denken „umsteigen.“
Und doch hatte diese Situation etwas Gutes. Unsere Praktikantin hat gelernt, was man nur durch erfahren lernen kann. Sie wird es nicht mehr vergessen und weitergeben. Keiner von uns kann von Anfang an alles, aber wir müssen bereit sein uns einzulassen, zuzulassen, auszulassen, stehenzulassen, auch wenn es einmal ein Zimmer auf dem Kopf ist. Es gibt mehr als unsere eigene Sicht der Dinge. Nicht wir geben unseren Ton an.

Wir passen uns den Gegebenheiten an, auch wenn sie sich innerhalb einer Schicht mehrmals ändern. Mit Druck gelingt uns nichts. Natürlich müssen wir in Gefahrensituationen eingreifen. Ansonsten gilt, dass es wirklich nichts gibt, was es nicht gibt

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1 Kommentar zu "Demenz hat ihre eigene Ordnung"

  1. Peter Josef Dickers | 9. März 2019 um 10:34 |

    Ein Bericht, der unter die Haut geht.

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