Demenz-Kranke. „Du warst lange nicht hier.“

Meine ehemalige Lehrerin besuchte ich. „Oma schläft“, sagte man. Oma schlief nicht, als ich ins Zimmer kam. Sie döste vor sich hin. „Ich bin es.“ Ich nannte ihr meinen Namen. „Du warst lange nicht hier.“ Das Verhältnis zur Zeit hat für sie eine andere Wertigkeit erhalten. Ein stimmiges Zeitgefühl zu haben, fällt auch mir nicht immer leicht. Haben wir heute Mittwoch oder Donnerstag? Ein Blick in den Kalender hilft. Das Warten beim Zahnarzt kommt mir manchmal wie eine Ewigkeit vor, erst recht dann, wenn ich mich unwohl fühle. In Wirklichkeit war es vielleicht nur eine halbe Stunde.

„Ich habe lange nichts von dir gehört.“ „Du warst lange nicht hier.“ Vielleicht gleich bedeutend mit „Ich erinnere mich nicht.“ „Ich weiß nicht, wann es war.

Auf einem Stuhl neben ihr saß Marja. Drei Monate lang betreut sie „Oma“. Weiß Marja nicht, dass „Oma“ nicht „Oma“ heißt? In knapp zwei Wochen fährt sie nach Hause. Dann wird ihre Schwester sie ablösen und drei Monate auf diesem Stuhl sitzen. Marja spricht einige Worte Deutsch. Sie reichen aus, Oma zu versorgen und die kleine Wohnung in Ordnung zu halten.

„Hast Du meine Karte aus dem Urlaub bekommen?“ Ich versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. Entweder hatte sie meine Urlaubsgrüße nicht erhalten, oder sie waren nicht wichtig für sie. Was nicht oder nicht mehr wichtig ist, registriert man nicht. Man vergisst es. Aktuelle Fernseh-Nachrichten am gestrigen Abend kann ich heute Vormittag oft nur mit Mühe ins Gedächtnis zurück holen. Wichtig können sie für mich nicht gewesen sein. Zudem bin ich froh, dass mein Gehirn für mich unwichtige, mich nicht direkt betreffende Nachrichten nicht lange speichert. Wie könnte ich die Flut von Informationen bewältigen, die täglich auf mich hereinstürzen?

Ich habe den Eindruck, dass die alte Lehrerin unbewusst für sie Wichtiges von Unwichtigem trennt. Dass ich „lange nicht da war“, das betrifft sie. Dass wir vielleicht vor einem einschneidenden Klimawandel stehen, wird sie hören und wieder vergessen.

Mit „Schule“ verbindet sie nichts mehr. Seit Monaten hat sie ihr Zimmer nicht verlassen. Sie wird von Marja versorgt, aber zwischen ihnen gibt es keine wirkliche Kommunikation. Marjas Welt und ihre Welt haben keine gemeinsame Schnittmenge. Wenn Marja abgelöst wird und eine andere Person auf dem Stuhl Platz nimmt, ist Oma wieder gut versorgt. Nicht mehr.

„Was habe ich noch vom Leben?“ fragte sie mich einmal. „Die Vergangenheit“, hätte ich antworten können, aber es nicht getan. Gut, dass sie eine Vergangenheit hat. Ohne sie hätte sie auch keine Gegenwart.

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