Unterwegs auf der Donau. Die Wienerin

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Sie saß in der ersten Zuhörer-Reihe, wenn ich Geschichten erzählte, die den Strom, auf dem unser Schiff fuhr, berühmt machten. Gebürtige Wienerin sei sie, keine Österreicherin, betonte sie. War sie weder Österreicherin noch Deutsche noch Perfektionistin? Wollte sie an Gregor Auenhammer erinnern, der von Österreichern erzählt, die in die Ferne gingen, um der Heimat verbunden zu sein. Seine österreichischen Mitbürger nennt er obrigkeitsgläubige Steigbügel-Halter; er hält sie für veränderungsresistent und lethargisch.

Solche Schimpfkanonaden trafen sie nicht. Ihre Vorfahren seien nicht erst seit drei Generationen in Wien heimisch, fügte die Nicht-Österreicherin die nicht von mir erbetene Angabe zu ihrer Herkunft an. Seitenhieb auf mich. Einem Reise-Handbuch hatte ich den Hinweis entnommen, die meisten Bewohner Wiens seien erst in dritter Generation von Geburt an Wiener.

Dass man ihren Landsleuten nachsagt, sie würden nichts von Rechtsansprüchen und klaren Regeln wissen wollen und sich stattdessen durchmogeln, schien auf sie nicht zuzutreffen.

Eine Wienerin lasse sich gern in den Mantel helfen und wünsche, dass man ihr die Tür aufhalte. Die Dame fand Gefallen daran, mir Nachhilfe in Wiener Lebensart zu erteilen. Da sie regelmäßig anwesend war, was sie bestätigt wissen wollte, hatte ich ihr zuzuhören und sie zu würdigen.

Eine Wienerin küsst den Gesprächspartner zur Begrüßung üblicherweise zwei Male auf die Wange – einmal links und einmal rechts. Bei mir hatte sie das bisher nicht praktiziert. Das verpflichtete mich nicht, ihr ein zärtliches „Küss-die-Hand gnä‘ Frau“ zuzuflüstern, als Demuts-oder Anerkennungs- Geste, wenn sie wieder einen Redebeitrag zu leisten wünschte.

Ich wollte weder ihrem weiblichen Charme erliegen noch mich in ihr Herz graben. Ehe ich mich auf bestimmte Verehrungsformen festlegte, musste ich zudem Rücksprache mit meiner Frau nehmen, die das Geschehen nicht unkritisch, aber distanziert verfolgte. Der ungarische Komponist Emmerich Kálmán empfiehlt in der Operette „Gräfin Mariza“: „Grüß mir die süßen, reizenden Frauen im schönen Wien.“ Er ließ die Durchführungsbestimmungen klugerweise offen.

Es gebe viele Möglichkeiten, sich einer Wienerin zu nähern. Jeder müsse die seine herausfinden. Einer Wienerin sei man nie ganz gewachsen. Den Rat hatte mir jemand mit auf den Weg gegeben, der sich mit Wien und den Frauen auskannte. Das sollte ich befolgen.

Es überraschte nicht, dass gnädige Frau von Tag zu Tag stärker auf sich aufmerksam machte. Je mehr Beachtung ihr zuteilwurde, desto wohler fühlte sie sich. Eine Drohung, wie sich bald herausstellen sollte. Sie hatte regelmäßig ein passendes Gedicht dabei, welches sie vortragen wollte, wenn ich unmaßgebliche Gedanken über Kultur und Kaffeehaus-Traditionen in Wien vortrug.

Die Wienerin und ich mussten miteinander auskommen, da wir nicht voneinander loskamen, noch voneinander lassen konnten. Sie liebevoll ignorieren konnte ich nicht. Wir pflegten höflichen Umgang, ohne uns sympathisch zu sein. Beide beanspruchten wir eine Insel der Glückseligkeit. Wir taten unser Bestes, obwohl das vermeintlich Beste lediglich der kleinste gemeinsame Nenner zwischen uns war. Anna Sacher, legendäre Königin von Wien genannte Hotel-Besitzerin, zählte zu den einflussreichsten Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Wienerin, Trutschn, wie die Wiener sagen, hätte ihr den Rang streitig gemacht.

„Küss-die-Hand gnä‘ Frau“. Sie wollte mir den Blackout ersparen und ihr Sehnsuchtsland, ihr Arkadien, betreten. Wie Walzer-Seligkeit wäre es gewesen. Damit hätte ich mich abfinden müssen. Aber ich war zu ihrem Leidwesen durch meinen Vertrag gebunden.

Einem Mitreisenden blieb das Geschehen nicht verborgen. Er kommentierte es mit einer Wiener Anekdote: „Herr Ober, bitte bringen Sie mir das, was der Herr dort drüben isst.“ „Ich glaube nicht, dass er sich das wegnehmen lässt.“ Von Stund an sah ich die Wienerin nur noch bei den Mahlzeiten.

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