Nicht die Laute wegwerfen, sondern die Saiten neu spannen.
Aus meiner Biografie

Als ich Kind war:

Hungerjahre prägten das Leben in unserem Dorf nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Von Wirtschaftswunder, von heiler Welt in der Nachkriegszeit war nichts zu spüren. Leute aus der Stadt unternahmen Hamsterfahrten zu uns ins Dorf, um Bauern und Privatleuten Tauschgeschäfte anzubieten. Die Reichsmark war wertlos geworden. Kartoffeln gegen Kunstgegenstände, Milch und Butter gegen Schmuck. Schwarzhandel hatte Hochkonjunktur.

Unser Garten grenzte an eine Eisenbahnstrecke. Wenn eine Dampflock vorbeiratterte, staunten wir über die schwarzen, rußigen Wolken, die sie ausstieß. Dass sie für die Salat- und Gemüsepflanzen, dass sie für uns schädlich sein konnten, kam uns nicht in den Sinn. Die Vorstellungen der Menschen waren noch nicht Klima-gestört.

Die Institution Kirche garantierte Halt und Sicherheit. Die Kirche war den Menschen nahe. Der Pfarrer wusste, was gut und richtig war. Er war moralische Instanz und hatte in gottesfürchtigen Landen Macht über Leben und Tod. Alltagsleben und Leben mit der Kirche waren miteinander verknüpft.

Meine Mutter war eine einfache, fromme Frau. Dennoch standen irdische Realitäten ihr näher als der Himmel. Himmel war weit weg. Es ging ums Überleben, um konkret Erreichbares. Sie benötigte Lebensmittelkarten für Brot und Fleisch, Kleiderkarten für Unterwäsche und Strümpfe, Bezugsscheine für Mantel und Schuhe. Sie klagte nicht über ihr Leben, nicht über das Leben und Verhalten anderer. Sie hätte viele Gründe gehabt. Aber wer hätte ihr zugehört? 

Auf eine bessere Zukunft setzten die Menschen. Es war eine Zeit der Hoffnungen auf überschaubare, geordnete Verhältnisse. Zukunftsstrategien wurden entworfen und wieder verworfen.

Als ich in die Schule kam:

Die „Deutsche Volksschule“ besuchte ich. Die Zeugnisse enthielten „Mitteilungen an die Eltern: Jedes Schulkind erhält ein Zeugnisheft unentgeltlich. Ein verlorenes oder unbrauchbar gewordenes Heft muß von den Eltern oder einem Stellvertreter ersetzt werden. Die Eltern werden gebeten, die Zeugnisse gebührend zu beachten und sich an den Klassenlehrer zu wenden, wenn sie nähere Erläuterungen wünschen. Hat das Verhalten des Kindes in Führung und Haltung, beim Anfertigen der häuslichen Arbeiten, bei der Mitarbeit im Unterricht wiederholt zu Beanstandungen Anlaß gegeben, wird dies zusätzlich durch Noten vermerkt.“

Als ich begann, über jene Zeit nachzudenken:

Unsere heutige reizüberflutete Gesellschaft mit den Segnungen des Fortschritts, dem Geräusch-Pegel und Veränderungsstress, den dauererregten und lauten Medien, der Rushhour des Alltags wäre damals unerträglich und nicht vorstellbar gewesen. Sicher Geglaubtes ist nicht sicher. Jeder scheint für sich selbst verantwortlich zu sein.

„Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“, behauptet Liedermacher Wolf Biermann. Die demokratische Verfassung unseres Staatswesens lässt Veränderungen zu, auch Grundgesetz-Änderungen. Gesetze haben ihre Zeit. „Das  Leben gehört dem Lebendigen an.“ „Wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein“, philosophierte Goethe vor fast dreihundert Jahren.

Andererseits  rückt die Sehnsucht nach einer „einfacheren“ Welt, nach Beständigkeit neu ins Blickfeld: Gesicherte Zugehörigkeit zu einer Firma, Verlässlichkeit, soziale Gewissheiten, partnerschaftliche Treue. Althergebrachtes und Vergangenes scheinen Potential für die Zukunft zu enthalten.

Wenn ich in die Zukunft schaue:

Neues schaffen und Altes bewahren – das muss nicht widersprüchlich sein. „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“ Friedrich Schiller formuliert in seinem Drama „Wilhelm Tell“, dass man sich von normierten Vorstellungen lösen und nach neuen Ufern umschauen muss.

Für den, der nur auf Unverrückbares setzt, ist das keine wünschenswerte Sicht. Anspruch auf feste Rollenmuster gibt es nicht. Das „Zeugnis der Deutschen Volksschule“ ist Zeit-Zeugnis der Jahre nach dem Krieg, das darin zum Ausdruck kommende pädagogische Behütungs-Konzept natürlich nicht mehr Zeit-gemäß. 

Dennoch: Vergangene Zeiten sind nicht wertlos für uns heute. Das „Convict Salesianum“, in dem ich während eines Auslandsstudiums in Fribourg/Schweiz wohnte, orientierte seine „Hausordnung“ nach einem Grundsatz des Franz von Sales (1567-1622): „Wenn man einen Missklang hört, muss man nicht die Saiten zerstören oder die Laute wegwerfen, sondern die Ohren öffnen und die Saiten vorsichtig spannen oder lockern.“Das gilt, glaube ich, immer noch.

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1 Kommentar zu "Nicht die Laute wegwerfen, sondern die Saiten neu spannen.
Aus meiner Biografie"

  1. Jenny Fieker | 12. Juni 2019 um 11:49 |

    Ich glaube auch, daß das noch immer gilt. Nur gibt es ein gravierendes Problem dabei. Ist es um uns herum noch leise genug um zu hören? Und wenn Missklang, dann wird draufgehauen. Vorsicht und Achtsamkeit kommen uns immer mehr abhanden. Texte wie dieser, können sensibilisieren.

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