Reise nordwärts. Auf dem Schiff

Das Schiff hatte eine fünfzig-tägige „Reise zu neuen Ufern“- Malaysia, Thailand, Sri Lanka – hinter sich, als es die Nordsee-Reisenden an Deck ließ. Eine „maßgeschneiderte Kreuzfahrt“ versprach individuelle Erlebnisse, fernab vom Massentourismus. Wann ist nicht „Masse“? Was ist „stilvolles Zuhause“ auf einem Schiff, wenn man nicht tatsächlich zuhause ist? Das Schiff hatte Platz für tausend Passagiere und für fünfhundert Bord-Angestellte. Meine Kabine war keine Premium-Unterkunft. Für neunzehn Tage Kreuzfahrt war Unterwegs-Sein wichtig, waren die Stationen der Reise vorrangig. „Premium“ genoss ich daheim.

Andererseits entging mir nicht, dass dem Schiff nach der „Reise zu neuen Ufern“ nicht viel Zeit zur Verfügung gestanden hatte, Spuren der Jahrhunderte zu verwischen, die der Seefahrer und jetzige Namensgeber des stilvollen Zuhauses in der Neunzehn Tage-Unterkunft hinterlassen hatte. Ich sah ein, dass tausend Gäste tausend Bedürfnisse und Erwartungen mit ihrem vorübergehenden Zuhause verbanden. Fünfhundert Bord-Angestellte konnten nicht allem gerecht werden und auch noch Stuben-Dienste verrichten.

Mein individuelles Erlebnis an Bord begann mit dem Angebot einer Alternativ-Kabine im Premium-Bereich. „Sie werden Verständnis dafür haben, wenn wir einen Preis-Aufschlag in Rechnung stellen.“ Ich rang mir das Premium-Verständnis ab. Zusätzlich wurden ja 219 Meter Komfort vom Bug bis zum Heck gewährt, dazu weitläufige Passagierbereiche mit viel Raum für meine Lieblingsplätze. Stilvoll sollte ich speisen und mich im Fitness-Center entspannen können.

Während der ersten Tage verirrte ich mich im großzügigen Ambiente und betätigte, wie ich zugeben muss, in den Aufzügen den falschen Knopf für das gewünschte Fahrtziel. „Ich war kürzlich auf einem viel größeren Schiff“, bot mir ein Mitreisender Hilfestellung an. Mein Orientierungs-Defizit war nicht verborgen geblieben. „Soll ich Sie mit ins Spa-Center nehmen?“ Ich wollte nicht. Ich suchte einen Getränke-Automat, da ich eine Tasse Kaffee vertragen konnte. Ein stilvolles Café an Bord hätte ich bevorzugt; den Weg dorthin musste ich aber erst noch erkunden.

Freie Platzwahl in einem der Restaurants war ein großzügiges Angebot. Dass ich damit rechnen konnte, auch überall bedient zu werden, wo ich Platz zu nehmen beliebte, war nicht zugesichert worden. Dass es zweckmäßig gewesen wäre, vor Reise-Antritt einen Schnellkurs in Serbisch, Indisch, Bahasa Malaysia zu belegen, um dem Service-Personal den Unterschied zwischen hart und weich gekochten Eiern klarmachen zu können, war den Reise-Unterlagen nicht zu entnehmen gewesen. Sooft ich mich zudem niederließ, traf ich auf neue Tischnachbarn und musste die gleichen Fragen beantworten, die mir gestern schon gestellt worden waren: „Die wievielte Kreuzfahrt ist das für Sie?“ „Welche Landausflüge haben Sie gebucht?“ Ich hätte darauf antworten können, unterließ es aber, da ich mir für das Buchen Zeit lassen wollte. Dass dies ein entscheidender Irrtum war, sollte sich herausstellen.

Das täglich neu ausliegende „Entdecker-Magazin“ war vollgepackt mit Aktivitäten: 7 Uhr Walk & Talk. 12 Uhr Grill-Party. 13 Uhr Puzzle-Ecke. 14 Uhr Nachmittags-Quiz. 15 Uhr Ringe werfen. 16 Uhr Sprechstunde mit Frau Elsbeth. Wann blieb mir Zeit, meine Landgangs-Wünsche unterzubringen und in die Tat umzusetzen? Außerdem rechneten die Lido-Bar, die Oasis-Bar, der Captains Club, der Blue Room, die Show Lounge mit meinem Besuch. Ob auch die Disco-Nacht und der Nachtclub für mich in Frage kamen, hing davon ab, ob ich Nachtruhe einplante. Ich weiß nicht, ob jemand, der alle Angebote wahr nahm, es mitbekommen hätte, wenn unser Schiff seinen Ankerplatz im Hafen nicht verlassen hätte.

Für mein leibliches Wohl war – zusätzlich zu den üblichen Mahlzeiten – ebenfalls umfänglich gesorgt. Der „Executive Chef“ bot eine „köstliche Mahlzeit mit kulinarischen Erlebnissen“ an. Es gab den „Cocktail und Mocktail des Tages“ sowie für die Mehrzahl der deutsch sprechenden Gäste auf dem Schiff einen „Kaffee des Tages“. Im SPA-Bereich konnte ich mir  eine Rücken-Nacken-Schultermassage, kombiniert mit einer revitalisierenden Gesichtsbehandlung gönnen. Kostenfrei waren diese Angebote nicht. Für Abhilfe sorgte die Taschengeld-Aufbesserung im Bord-Casino: „Kommen Sie heute bis Mitternacht ins Casino, und bereiten Sie sich auf einen unvergesslichen Poker-Abend vor. Unsere Casino-Mitarbeiter informieren Sie über alle Gewinn-Kombinationen.“

Warum hatte ich nicht Pokern gelernt? Warum hatte ich nicht die Mönchengladbacher Altstadt gebucht mit ihren verführerischen Angeboten, sondern diese Nordland-Reise? Als ich am letzten Reisetag dorthin aufbrechen wollte, waren tausend Mitreisende ebenfalls dabei, ihren Heimatgefühlen nachzugeben. Glücklicherweise zählte ich als Nummer 24 zu den Glücklichen, deren Abschied von Bord nicht zur Tagesveranstaltung ausartete.

Wenn die Sehnsucht übermächtig wird, lässt man sich dazu verleiten, das Große und Ferne zu suchen. Sobald sich Träume und Gewissheiten aufgelöst haben, stellt man fest, dass viel Schönes auch ganz nah ist.

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