Der Mauerfall – Ein deprimierendes Einzel-Schicksal

Für mich kam er aus der „Zone“. Ich hatte negative Assoziationen und wusste kaum, wo das war. Etliche Male war ich in die ehemalige Sowjetunion gereist. Nebenan, im anderen Teil Deutschlands, war ich nie gewesen. Er war wenige Wochen vor dem Mauerfall in den Westen gekommen, obwohl er an der Uni „drüben“ eine gute Stellung innehatte.

Er war gekommen, weil er mit seiner Bekannten zusammen sein wollte. Bisher hatten sie sich  nur auf der polnischen Seite der „Hohen Tatra“ in den Karpaten treffen können. Er war nach hier gekommen, obwohl die DDR seit fast fünfzig Jahren seine Heimat war, in der er aufwuchs, Ansehen erworben und Erfolge erlangt hatte. Seine Mutter war in Leipzig geblieben. Heimat und Mutter, Beruf und Erfolg ließ er zurück.

Ich lernte ihn kennen. Er war klug. Er hatte exzellente Noten. Wissen und Können hängen nicht vom politischen System ab, sondern vom persönlichen Engagement. Er lehrte mich vieles anders und überhaupt zu sehen.


Der Alltag West holte ihn ein. Andere Maßstäbe. Andere Wertordnungen. An Erfolg und Konsum  orientiertes und gemessenes Wirtschaftsdenken. Folgen für ihn: Nicht erfüllte berufliche Erwartungen. Begrabene, enttäuschte  Hoffnungen. Er war der Fachmann-Ost. Hier suchten sie den Fachmann-West.

Aber er blieb. Kein Arbeitsplatz war ihm zu weit entfernt; oft getrennt von der Bekannten, die inzwischen seine Frau geworden war. Manche behaupten, Partnerschaft funktioniere am besten, wenn man sich möglichst selten sehe und zwei Mal in der Woche essen gehe – er dienstags, sie freitags. Auf Dauer ist das frustrierend.

Er war in den  bisher „zehn Jahren West“ kein Anderer geworden. Dennoch sollte er „anders“ als bisher gewohnt leben, denken und handeln.

Er hatte eine unnachahmliche Art, Probleme zu lösen. Als wir an einer Straßenbahnhaltestelle warteten, fragte ich ungeduldig, wann die Bahn endlich käme. Es könnte nicht lange dauern, kommentierte er gelassen; die Schienen lägen ja schon.

Völlig unerwartet starb er. Während einer kurzfristigen ärztlichen Untersuchung brach er zusammen. Ein Schock. Fassungslos jene, die ihn kannten und ihn schätzen gelernt hatten. Mir war er ein vertrauter, lieber Freund geworden.

Was hatte er gelitten? Wer hatte wem nicht zugehört? Wer hatte wen nicht verstanden? Er uns? Wir ihn? Welche Mauern waren nicht abgetragen worden? Hätte er dort bleiben sollen, von wo er aufgebrochen war?

Ich vermisse ihn. Wenigstens weiß ich, wo sein Grab ist – nicht weit von hier entfernt.

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2 Kommentare zu "Der Mauerfall – Ein deprimierendes Einzel-Schicksal"

  1. Peter Josef Dickers | 4. Oktober 2019 um 14:24 |

    Danke für den einfühlsamen Kommentar, Herr Heinemann.

  2. Frank Heinemann | 4. Oktober 2019 um 11:50 |

    Jedes Leben geht einmal zu Ende. Man kann nur mutmaßen, aber manchmal haben äußere Umstände durchaus eine Bedeutung dabei. Wieviel Traurigkeit und Enttäuschung kann ein Mensch unbeschadet verkraften, und eine Beziehung hilft nicht über alles hinweg. Wie geht es mir, entwurzelt, nicht gefragt meine Fähigkeiten? „Aus der Zone“ sein, war durchaus ein echter Makel. Wieviele solcher oder ähnlicher Schicksale mag es gegeben haben und immer noch geben, wenn wir an die aktuelle Flüchtlingssituation denken. Eine berührende Geschichte, mit einem wesentlichen Punkt. Egal ob Osten oder Westen, vermissen ist schmerzlich, setzt aber Liebe voraus.

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