Esel haben keine Lobby

Der Mönchengladbacher Autor, Peter Josef Dickers; Foto: Günter Pfützenreuter

Ich stehe schon lange an der Krippe. Von Natur aus bin ich geduldig und beschwere mich nicht. Meine langen Ohren hängen schlapp herunter. Ich fühle mich meistens ganz entspannt. Seit ein paar Tagen ist das anders. Es kommen nicht mehr so viele Leute zum Kind. Von mir nehmen sie keine Notiz. Esel haben keine Lobby. Wir sind zu bescheiden und genügsam. In der vergangenen Nacht jedoch habe ich meine Ohren gespitzt. Senkrecht hoch standen sie, damit ihnen nicht entging, was geflüstert wurde. Wir sollen schleunigst weg von hier. Das Kind soll entführt werden.

So etwas habe ich noch nicht erlebt. Wo sollen wir denn hin? Seit dreißig Jahren wohne ich hier in der Gegend. Jeden Grashalm und jede Wasserpfütze kenne ich. Und jetzt sollen wir weg? Nach Ägypten, habe ich verstanden. Was wollen wir in Ägypten? Meine Vorfahren waren dort, als die Pyramiden gebaut wurden. Soll ich da wieder Steine schleppen und die schwer beladenen Karren durch den Sand ziehen? Ich weigere mich, habe ich der Mutter zugeflüstert. Sie weiß, wie störrisch ich sein kann.

Wir brauchen dich, raunte sie mir zu. Du kennst dich hier aus. Außerdem kannst du das Kind tragen und mich, wenn ich müde bin. Du hast eine große Verantwortung. Sie schien dass ernst zu meinen. Tragen soll ich sie. Sie und das Kind. Hat mich jemand um so etwas schon einmal gebeten? Ich kann mich nicht erinnern. Steine mussten meine Vorfahren schleppen. Anderen die Karre aus dem Dreck ziehen. Jetzt soll ich die Frau tragen. Und das Kind. Ich sei verantwortlich, hat sie gesagt. Wann war ich jemals für etwas verantwortlich? Dummer Esel, sagen viele. Dass ich ein gutes Gedächtnis habe, dass ich genügsam bin und für andere die schweren Lasten schleppe – wen interessiert das? Wir Esel können uns nicht wehren. Wir haben keine Lobby.

Jetzt soll ich Verantwortung tragen. Nach Ägypten sollen wir gehen. Ich weiß nicht, wie viele Kilometer das sind. Ich werde die Ohren spitzen und auf meine gute Nase vertrauen. Sie wollen sich auf mich verlassen – auf mich, einen Esel. Sie trauen mir das zu, weil ich gutmütig bin. Sie trauen es mir zu, weil ich das Kind liebe und mich von ihm streicheln lasse.

Esel sind verantwortlich. Gewusst habe ich es immer. Gesagt hat es mir noch keiner.

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