Reise nordwärts. Nordsee-Geschichten

Ich schnuppere Nordsee-Luft. Zu der Inselgruppe im Südwesten Islands, der ersten Station unserer Reise, geht es nicht mit dem Schnellboot. Unser Schiff nimmt sich Zeit. Auch bei mir stellt sich ein neues Zeitgefühl ein. Und eine neue Sichtweise. Hinfahren gehört zum Ankommen. Wir fahren über ein Meer, das zu der Reise gehört.

Der südliche Teil der Nordsee war einmal festes Land. „Doggerland“ nennen es die Forscher. Vor Tausenden von Jahren siedelten Menschen hier. Als sich die Gletscher zurückzogen, stieg der Meeresspiegel an. Niemand hatte davor gewarnt. Es gab keine Klima-Hysterie. Die Eiskappen der Erde und mit ihnen die Gletscher waren immer wieder geschmolzen. Der Meeresspiegel schwankte um mehr als einhundert Meter. Das Meer schuf einschneidende Veränderungen. Die Küste verschob sich, teilweise vom Meer gefressen, im Verlauf der Jahrtausende Richtung Süden dorthin, wo sie jetzt ist. Ob sie ewig da bleiben wird?

Die Geschichte der Nordsee ist eine Geschichte der Naturgewalten, denen Mensch und Natur ausgeliefert waren und sind. Sie besteht aus der dramatischen Aufeinanderfolge von Stürmen und Fluten, denen die Menschen wenig entgegenzusetzen hatten. Besonders verheerend verlief die Weihnachtsflut 1717, die Tod und Verwüstung über die Küstenbewohner der Niederlande, Norddeutschlands und Skandinaviens brachte. „Statt das Fest der Geburt Jesu zu feiern, wurde nichts anderes gehört als Geschrei, Klagen, Heulen und Weinen.“ So schilderte der Pastor einer ostfriesischen Gemeinde die Vorgänge.

Heinrich Heine hat Ereignisse solcher Art in Worte gefasst:

Der Sturm spielt auf zum Tanze
Er pfeift und braust und brüllt
Heisa, wie springt das Schifflein
Die Nacht ist lustig und wild
Ein lebendes Wassergebirge
Bildet die tosende See
Hier gähnt ein schwarzer Abgrund
Dort türmt es sich weiß in die Höh‘
Ein Fluchen, Erbrechen und Beten
Schallt aus der Kajüte heraus:
Ich halte mich fest am Mastbaum
Und wünsche: Wär‘ ich zu Haus

Die tobende See mit ihren orkananrtigen Stürmen ist „der blanke Hans“, das personifizierte, wütend gewordene Meer. Den „Blanken Hans“ beschrieb der Lyriker Detlev von Liliencron in einem Gedicht. Es schildert darin, wie eine Stadt auf einer Nordseehallig von einer Sturmflut überrollt wurde und unterging.

In seiner Novelle „Der Schimmelreiter“ erzählt Theodor Storm von der unberechenbaren Macht des Meeres. 1817 in Nordfriesland am Meer geboren, erlebte er nicht nur dessen Faszination, sondern auch das Bedrohungspotential. Obwohl die Menschen hinter Deichen lebten, waren sie den Naturgewalten ausgeliefert. Mächtigster Widersacher des Deichgrafs, des Schimmelreiters Hauke Haien, ist nicht die konservative Dorfgemeinschaft, sondern das Meer. Hauke Haien will einen Deich bauen für die Ewigkeit. Am Ende versinken menschliche Überheblichkeit und Uneinsichtigkeit in den Fluten der Nordsee.

Nicht nur mit Meeres-Gewalten mussten sich die Menschen auseinandersetzen. Norwegische Wikinger beherrschten ab dem ausgehenden 8. Jahrhundert den Handel im Nordseeraum. Aber sie waren auch als Plünderer und Eroberer, Piraten und Freibeuter gefürchtet. Einer der berüchtigtsten war Klaus Störtebeker, Anführer der Vitalienbrüder, einer Seeräuberbande. „ Likedeeler“ nannten sie sich – Leute, die „zu gleichen Teilen“ ihre Beute aus den Raubzügen „teilten“ und auf Märkten zum Kauf anboten. Die „Hanse“, ein norddeutscher Städtebund, setzte sich auf See mit „Friedenskoggen“ gegen sie zur Wehr. 1401 wurde Störtebeker  angeblich gefangengenommen, nach Hamburg gebracht und hingerichtet.

In der Hansestadt scheint er sich zum Anti-Helden gemausert zu haben. In der neuen Hafen-City wird Spaziergängern ein Abstecher zur Bronzestatue des „berühmten Freibeuters Klaus Störebeker“ empfohlen. Staunenswert ist zudem die „Störtebeker Elbphilharmonie“ mitsamt „Störtebeker-Restaurant“. Auf der Insel Rügen finden „Störtebeker-Festspiele“ statt; man kann in der „Störtebeker Zeitung“ blättern, in der Störtebeker butik“ stöbern und im „Restaurant zum Störti“ einkehren. Dem ehemaligen Pirat hat die Nachwelt zu Ruhm und Ansehen verholfen.

An der Nordsee war und ist alles anders. Vor vierhundert Jahren war die Zeit der Walfänger. Matthias Petersen von der Insel Föhr kommandierte ein Walfangschiff auf Beutezügen bis nach Norwegen und Grönland. 373 Wale soll er erlegt haben. „Glück“ für ihn, dass es keine Tierschützer gab, die ihm und seinen Mit-Jägern die Harpunen entrissen hätten. „Glück“ für uns an Bord, dass uns das „Erlebnis einer Whale-Watching-Expresstour mit einem schnellen, großartigen Boot“ angeboten wird. „Entdecken Sie vielfältige Meerestiere von den großen Aussichtsplattformen aus. Erfahren Sie spannende Infos zu den Walen von Ihren Guides.“

Soll ich dafür achtzig Euro zahlen? Ich weiß nicht, ob Tierschützer an Bord sind, die ich fragen könnte. Die isländische Regierung erlaubt auch jetzt noch den Fang von Zwergwalen als Nebenerwerb für Fischer. Ob das alle gut finden? Am besten frage ich niemanden und bleibe auf dem Schiff.

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