Sechzig Paar Schuhe.
Erinnerung an die Progrome vom 9. und 10. November 1938

Die  vom nationalsozialistischen Regime organisierten und gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen Juden in Deutschland und Österreich belasten bis heute. Sie waren Auftakt zur systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.

Nach der NS-Machtübernahme boykottierte man in Rheydt jüdische Geschäfte, Arzt- und Rechtsanwaltspraxen. Der jüdische Friedhof wurde geschändet und am 10.November 1938 in Rheydt die Synagoge in Brand gesteckt.

Die Barbarei endete nicht an den Grenzen des Deutschen Reichs.

„Judapest“ nannte ein Wiener Bürgermeister die Stadt. Zweihunderttausend Juden wohnten vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in Budapest. Das weltoffene Klima, die Möglichkeit Eigentum zu erwerben und einen Beruf ausüben zu können, lockten viele an.

Pulsierendes Leben herrschte im Bezirk „Erzsébetváros“, im ehemaligen jüdischen Viertel „Elisabethstadt“. Es gab jüdische Cafés, Bars und Theater. Kunsthandwerker betrieben kleine Geschäfte. Dann kamen der Krieg und der Holocaust. Die Nationalsozialistische Bewegung „Pfeilkreuzler“ betrieb zwischen 1935 und 1945 radikalen Antisemitismus. Ihre Anhänger übten blutigen Terror aus. Sie sperrten die Juden in Ghettos, transportierten sie nach Auschwitz

 „Liebster Karczi, bin leider ohne Nachricht. Hoffe euch gesund. . . Bitte schreibe sofort über euch.“ Die Nachricht entdeckte ich in einem Dokument des Ungarischen Roten Kreuzes in Budapest. Sechzehntausend Juden wurden am Donau-Ufer erschossen. Darunter vielleicht auch Karczi. Der Fluss trug die Leichen fort. Vor ihrem Tod mussten sie die Schuhe ausziehen, da sie noch einen Wert hatten.

2004 stellte der Künstler Gyula Pauer sechzig eiserne Schuh-Paare ans Donau-Ufer, südlich des Parlaments. Die Schuhe stehen oder liegen dort wie zufällig, als seien sie von damals übrig geblieben.

Und heute? In der deutschsprachigen „Budapester Zeitung“ las ich eine Notiz: „Mit dem Abriss eines Hauses auf der Kiraly utca ist am Donnerstag begonnen worden. Die Arbeiten an dem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert mussten aufgrund von Protesten wieder eingestellt werden. Die Demonstranten warfen den Verantwortlichen vor, die Abrisserlaubnis sei nicht gültig.“

Die Stadtverwaltung argumentierte: Der Zustand des Hauses und die hohen Kosten für die Sanierung seien Gründe, dass ein Abriss einzige Option sei. Man brauche Geld aus den Grundstücksverkäufen, um das Viertel modernisieren zu können. Die zweistöckigen, alten Wohnhäuser sollen abgerissen werden und Platz schaffen für Luxuswohnungen und Edelboutiquen. Die Vergangenheit und die bewegte Geschichte des ehemaligen jüdischen Ghettos werden ignoriert, nach Möglichkeit ausgelöscht. Gegenwart und Zukunft sind das Maß aller Dinge.

 „Marod charmante und quirlige Straßen“, steht im Reiseführer. Touristen mit Budapester Hochglanz-Erwartung verirren sich nicht hierher. „Wonderful Budapest“ suchen sie woanders.

Je länger ich durch die Elisabethstadt ging, desto mehr zog sie mich in ihren Bann. Das jüdische Viertel ist in Gefahr, wenn alte Häuser abgerissen, gewachsene Strukturen zerstört und jüdische Erinnerungskultur dem Vergessen preisgegeben werden. Ich verstand, warum die Budapester Bevölkerung auf die Barrikaden ging, als Bagger die „Silberschmiede“ niederwalzten, eines der schönsten alten, jüdischen Häuser.

Das andere, kaum von Touristen besuchte Budapest holte mich ein – das Holocaust-Denkmal z. B. mit dem großen metallenen Weidenbaum. Auf seinen Blättern sind die Namen deportierter, verschollener, ermordeter Juden eingraviert. Sie halten fest, was geschah. An der Totenwand las ich vertraute Namen: Kohn. Roth. Herzfeld. Kaufmann. Herzog. Kein Budapest für Touristen.

„Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist?“ Was wir „vergessen“, holt uns irgendwann wieder ein.

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