Das Kinderfahrrad

Der Mönchengladbacher Autor, Peter Josef Dickers; Foto: Günter Pfützenreuter

Anja war stolz auf ihr Fahrrad. Opa hatte es ihr zum Geburtstag geschenkt. Mit dem neuen Kinderfahrrad konnte sie sogar bremsen, wenn sie an der roten Ampel anhalten musste. Vier Jahre war Anja alt. Sie konnte schon bis „zehn“ zählen. Opa konnte noch weiter zählen, obwohl auch er nur zehn Finger an seinen beiden Händen hatte. Das verstand sie nicht, aber Opa würde es ihr bestimmt erklären.

Neben dem großen Haus mit dem hohen Turm wohnten sie. Das war die Kirche, in der Anja mit Opa manchmal eine Kerze anzündete. Jetzt fuhren sie von der Kirche aus bis zu dem Weg an der großen Straße. Auf ihm konnten sie ganz sicher fahren, weil man hier nur mit dem Fahrrad fahren durfte. Autos mussten auf der Straße bleiben.

„Wo fahren wir hin?“ fragte Anja „Geradeaus“, rief Opa. Anja wusste nicht, wo das war. Aber bisher hatten sie immer den Weg zurück nach Hause gefunden. Außerdem konnten sie den hohen Turm neben der Kirche sehen; daneben wohnten sie.

Ob Opa heute müde war? Bald waren sie wieder an der Kirche angekommen. Opa stellte das Fahrrad in den Ständer vor der Tür; Anja machte es genau so. „Warum sind wir wieder hier?“ fragte sie. Man merkte es ihrer Stimme an, dass sie enttäuscht war. „Wir wollen die Krippe besuchen“, erklärte Opa. Jetzt in der Weihnachtszeit hatten sie zu Hause auch eine Krippe unter dem Weihnachtsbaum stehen. Die Figuren in der Kirche waren jedoch viel größer, fast so groß wie Anja.

Vor Freude klatschte sie in die Hände. Am liebsten hätte sie das Jesuskind, das in der Krippe lag, gestreichelt. Opa musste ihr die Geschichte erzählen, wie es Maria und Josef ergangen war, als sie in dem Ort ankamen, wo das Baby geboren wurde. Eine lange Reise hatten sie hinter sich. Meistens mussten sie zu Fuß gehen, weil es noch kein Auto und keinen Bus gab. Unfreundlich waren die Leute. Niemand bot ihnen ein Zimmer an. Eine Hütte fanden sie schließlich, die ähnlich aussah wie diese Krippe. „Wie lange sind sie da geblieben?“ wollte Anja wissen. „Das weiß ich nicht“, erwiderte Opa. „Sehr lange aber nicht, da sie den weiten Weg wieder zurückgehen mussten.“ „Zu Fuß?“ fragte Anja. Sie wusste, wie weit es vom Kindergarten bis nach Hause war. „Wahrscheinlich zu Fuß“, bestätigte Opa.  „Das Baby war natürlich auch dabei.“ Anja schwieg. Opa wunderte sich, dass sie keine ihrer vielen Fragen stellte wie sonst immer.

Ein paar Tage später schellte es an der Haustür. Opa war da. Ziemlich aufgeregt war er. Anja schien sich heute nicht für Opa zu interessieren und wollte sich ins Kinderzimmer verdrücken. „Bleib du bitte hier und zeige mir dein Fahrrad.“ So hatte Opa noch nie mit ihr geredet. Das Fahrrad war nicht da. Gestern Nachmittag hatte sich Anja heimlich mit ihrem Fahrrad aus dem Haus geschlichen und war zur Kirche gefahren. Ohne, dass es jemand bemerkte, hatte sie das Rad an die Krippe gestellt und war schnell wieder nach Hause gelaufen.

„Ist das dein Fahrrad, das an der Krippe in der Kirche steht?“ fragte Opa. Böse sah er  nicht aus. „Ich habe es der Maria gebracht, damit sie nicht zu Fuß nach Hause gehen muss.“

Opa sagte nichts. Aber Anja glaubte bemerkt zu haben, dass er lächelte.

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1 Kommentar zu "Das Kinderfahrrad"

  1. Wolfgang Bongardt | 25. März 2018 um 11:00 |

    … ich habe auch gelächelt.

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