Im Donaudelta

Das Flusskreuzfahrtschiff hat Tulcea, ehemals die Stadt der Mühlen, erreicht. Viele Getreide-Mühlen sollen hier Getreide gemahlen haben. Sie haben die Zeiten nicht überdauert. Wir sind nicht ihretwegen gekommen. Drei Donau-Arme führen von hier zum Schwarzen Meer, zum Kilometer Null des großen Stroms. Es ist ungewöhnlich, dass gezählte Kilometer gegen Null gehen, obwohl die Fluten des Stroms eine fast dreitausend Kilometer lange Reise hinter sich haben.

Kann man die Bedeutung des Stroms erst ermessen, wenn er ans Ende gekommen ist und im Meer ertrinkt? Es soll im Himalaja ein Kloster geben, in dem Nachrichten aus aller Welt gespeichert werden, wenn sie mindestens zwei Jahre alt sind. Wer sich dann noch für sie interessiert, kann sich auf den Weg zu ihren Anfängen machen. Gilt Vergleichbares für die Donau?

Von Tulcea aus wollen wir einen Eindruck bekommen von Europas einzigartiger, unberührter Weite des Donau-Deltas mit seiner Flora und Fauna. Durch ein Gewirr von Seen, Teichen und schmalen Fluss-Läufen winden sich Flussarme zum Meer. Täglich zeigt das Gewirr ein anderes Gesicht. Wo heute ein See ist, schwimmt Tage später eine Schilf-Insel. Die Natur folgt eigenen Gesetzen und Rhythmen. Sie widersetzt sich berechenbaren Regeln. Ein Improvisations-Künstler. Lebensbereiche ändern sich unablässig. Ein Kaleidoskop aus Biotopen und Lagunen, Auwäldern und Feuchtwiesen entsteht und vergeht. Nichts entzieht sich der Vergänglichkeit. Labyrinthe aus Seen und Nebenarmen, aus Seerosen-Teppichen und Schilf-Zonen bilden ein nicht überschaubares Ganzes.

Die einzigartige Vogelwelt im Biotop wird gerühmt. Leider trägt unser Boot, mit dem wir zwei Stunden lang auf Erkundungsfahrt gehen, mit dazu bei, dass wir von der großen Vogel-Familie, von den Reihern und Pelikanen nur aufgescheuchte Exemplare zu Gesicht und vor die Kamera bekommen. Während die hier lebenden Fischer im Frühjahr nicht fischen dürfen, um die Vogelbrut nicht zu stören, heulen Motorboote auf und lassen Vögel, Reiher und Pelikane davonfliegen. Ich genieße dennoch das Naturschauspiel, in dem nichts Aufregendes geschieht und das deswegen nachhaltig auf mich wirkt. Einige Mitreisende streicheln ihre Seele und fühlen sich ins Paradies versetzt. Sie lassen Astrid Lindgrens „Sehnsucht nach Bullerbü“, wo alles stimmig zu sein schien, gegenwärtig werden.

Diesen Lebensraum als Paradies zu bezeichnen, in dem Menschen ihre Sehnsucht nach dem Schönen, Glücklichen und Friedlichen erfüllt sehen, bleibt wahrscheinlich denen vorbehalten, die nur kurz hier verweilen. Das Leben spielt sich nicht ab in romantischen Wald- und Märchenlandschaften. Die Bewohner üben sich in der Strategie der Pelikane: Sie schlängeln sich durch. Im Sommer sind ihre kleinen Dörfer per Schiff erreichbar. Im Herbst und Frühjahr setzt der hohe Wasserstand des Stroms ihnen zu. Wenn er im Winter zugefroren ist, sind sie abgeschlossen von der Außenwelt. Ein längerer Aufenthalt statt eines kurzweiligen Besuchs in diesem Überlebensraum würde uns Bescheidenheit lehren.

Auch die rumänische Studentin, die uns auf dem Boot begleitet, äußert sich zurückhaltend zu Paradies-Garten und Paradies-Gefühlen. Das Delta sei kein immerwährendes Hochdruck-gebiet, mahnt sie. Wenn im Winter der Fluss zufriere, versorge ein Hubschrauber die Bewohner von Zeit zu Zeit mit Nahrungsmitteln. Erkranke jemand, könne eventuell eine Krankenschwester aus dem Nachbardorf helfen, die ebenfalls per Hubschrauber angefordert werde.

Für junge Leute gebe es kaum Arbeit. Die gottverlassene Gegend, in der sie unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit groß würden, sowie das entbehrungsreiche Leben ließen sie in die Städte außerhalb des Deltas abwandern – oft mit Zustimmung der Eltern. So sei es auch bei ihr gewesen „Die Kinder sollen es besser haben“, laute die Devise. Eine Aussage, die uns bekannt vorkommt.

Problematisch sei immer noch die Versorgung mit Trinkwasser. Ihr Heimatdorf liege am Wasser. Ihr Vater habe vor Jahren einen Brunnen im Garten angelegt, von dem aus er Wasser ins Haus pumpe. Wirklich trinkbares Wasser sei das aber nicht. Wenn er mit dem Hausboot nach Tulcea fahre, decke er sich im „Magazin Mixt“ mit abgefülltem Trinkwasser ein.

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