Sehnsucht nach Wellness

Die augenblicklichen Temperaturen heizen meine Wellness-Stimmung an, obwohl ich mit Wellness und Baden nicht groß geworden bin, weil sie in meiner Kindheit nicht den Stellenwert hatten, der ihnen heute zukommt.

Wellness verlief damals in unserer Familie etwas anders als heute. Samstags in die Zinkbadewanne, so lautete die wöchentliche Wellness-Veranstaltung. Diese Art nachkriegszeitlicher Körperkultur fand in der großen Küche statt. Nach dem Mittagessen holte meine Mutter die Zinkbadewanne, die an einem Haken im Stall hing, in die Küche und stellte sie vor das Fenster. Vormittags war noch das Futter für das Hausschwein darin angerührt worden. Ein bisschen sah sie nach Sarkophag aus. Die Wanne, Bütt hieß sie bei uns, sollte uns Wochenend-Labsal spenden. Uns – das waren Mutter, Tante, mein Bruder und ich.

Mutter schleppte aus dem Waschbottich nebenan im Stall zehn Eimer heißes Wasser heran und goss es in die Wellness-Wanne. Auf dem Küchenstuhl, der daneben stand, lag ein dickes Stück Kernseife. Die Reinigung versprach gründlich und porentief zu werden. Aromatische Düfte drangen höchstens vom Küchenherd herüber, auf dem die Rindfleischsuppe für das Sonntagsessen kochte.

Dann folgte ein entscheidender Augenblick. Quer durch die Küche spannte Mutter ein großes Tuch. Das Wellness-Studio wurde abgetrennt und entzog sich fortan unseren Blicken. Mein Bruder und ich saßen auf der Küchenbank, Blickrichtung Küchenfenster, jetzt mit neunzigprozentiger Sichtbehinderung. Die fehlenden zehn Prozent hatten ein Ein-Sehen mit uns, weil der Zahn der Kriegszeit auch dem Zinkbütt-Sichtschutz-Vorhang zugesetzt hatte.

Zuerst entschwand die Tante hinter den Vorhang. Diese Spanische Wand der Katholiken verbarg Wesentliches. Nur an hellen Sommertagen ermöglichte uns das dahinter liegende Küchenfenster bescheidene Anatomie-Studien. Bald jedoch versperrte undurchdringlicher Wasserdampf die Sicht. Dann konnten wir nur erahnen, wie schön es im Paradies gewesen sein mochte.

Sobald die Tante ihren Baderitus absolviert hatte, erscholl Richtung Küchenbank das Kommando „umdrehen“. Sie entschwand dann unseren Blicken. Das Umdrehen nahm bei meinem Bruder manchmal unverhältnismäßig lange Zeit in Anspruch. Daran muss es wohl gelegen haben, dass er ziemlich genau die Größe des Muttermals in ihrer Bauchnabelregion beschreiben konnte.

Die Badestube war aber längst noch nicht für uns beide frei. Jetzt kam nämlich Mutter an die Reihe. Das Badewasser war zwar schon ziemlich eingetrübt, aber Mama fand das nicht weiter schlimm. Sie nahm den großen Schöpflöffel –  „Schäpp“ nannte sie ihn – schöpfte  den Seifenschmand von der Oberfläche ab und füllte einen Eimer heißes Wasser nach. Die gleiche Prozedur wiederholte sie, wenn der hierarchischen Ordnung nach ich anschließend in die Wanne steigen durfte.

Das Badewasser hatte inzwischen deutliche Ähnlichkeit mit der Rindfleischbrühe auf dem Küchenherd angenommen, nur trüber und mit diversen Einlagen versehen. Mutter hatte sich wieder angezogen und wusch mir den Kopf. Kernseife war ein Allround-Waschmittel. Mit dem großen Handtuch, das zuvor schon mit verschiedenen anderen Körperteilen der Badefamilie Bekanntschaft gemacht hatte, trocknete sie mich ab. Den Begriff Föhn kannte sie nur als warmen Wind im Voralpenland.

Dann konnte endlich auch mein Bruder in die Wanne steigen. In einem kostengünstig geführten Haushalt war Wasser kostbar. Daher glich die Badewanne inzwischen einem undurchdringlichen Tümpel, was jedoch den Reinigungszeremonien keinen Abbruch tat. Wenn wir am nächsten Morgen die Wäscheleine mit den Socken über dem Küchenherd baumeln sahen, ahnten wir, dass auch die noch in der Brühe gewaschen worden waren.

Es war ein spannender Samstagnachmittag bei uns daheim. Von Allergien oder Staubmilben, von Desinfektionsmitteln oder Fußpilz habe ich nie  gehört. Wahrscheinlich gab es das damals noch nicht. Und krank geworden bin ich auch nicht.

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