In der Lounge des Flusskreuzfahrtschiffes sitzen mehr als hundert Reisende. Alle Blicke sind nach vorn gerichtet. Bald wird eine Brücke in Sichtweite kommen, welche die Flussufer verbindet. Es wird noch dauern, bis das Schiff die Brücke erreicht. Jeder hat sich einen günstigen Platz gesichert, von dem aus das Bauwerk zu sehen ist. In der Zwischenzeit hätte man Gelegenheit, andere Objekte wahrzunehmen, die am Ufer vorüberziehen. Man müsste den Kopf ein wenig wenden, vielleicht die Sitzposition ändern, um zu sehen, was man sonst nicht sieht. Die meisten unterlassen es. Dass in der Ferne die Silhouette einer Stadt auftaucht und auf der linken Fluss-Seite das Jagdschloss eines bekannten Herzogs, entgeht vielen. Würde man sie abends nach dem Schloss fragen, würden sie Stirne runzelnd fragen: „Welches Schloss?“
Auf einer Anhöhe über dem Fluss grüßt die Kirche Maria Taferl mit ihren beiden Türmen zu den Fluss-Reisenden herüber. Schön wäre es, von dort oben einen Blick auf den Fluss und die Landschaft des Nibelungengaus zu werfen. Das Wesen der Dinge habe die Angewohnheit, sich zu verbergen, wusste Heraklit von Ephesus. Ich möchte die hoch gelegene Schöne entdecken. Von wunderbaren Heilungen und Rettungen erzählt die Schatzkammer. Mit Moos bewachsene Ruine ist die Kirche nicht. Aber das Schiff gleitet vorüber und lässt mir keine Zeit. Es duldet nicht die Abzweigung, die ich nehmen möchte. Es treibt mich fort. Eine Schiffsreise ist kein Sonntagausflug, bei dem ich nach Belieben Halt machen kann.
Der Walzerkönig-Stadt Wien am viel besungenen, nicht blauen Strom steuert das Schiff zu. Alle wollen dorthin. Für Publizität muss sie nicht werben. Ob alle das Gleiche dort sehen und erleben wollen? Sachertorte und Palatschinken probieren? Einen Pfiff trinken? Ein Brathendl am Würstel-Stand essen? Was ist typisch für diese Stadt? Was sollte man unbedingt sehen? Unterschiedliche Ansichten und Antworten. Wer weder Hunger noch Durst verspürt, entscheidet sich vielleicht für das Ballett der weißen Lipizzaner-Hengste und schwärmt, an der Hohen Schule klassischer Reitkunst komme niemand vorbei.
Dann ist die Stadt da. Nein, Häuser. Ist das die Stadt? Direkt am Fluss liegt sie nicht. Sie liegt neben ihm, sagen Spötter. Wer sie sehen will, muss sich auf den Weg zu ihr machen, obwohl sie da ist. Das große Schild mit der Ortsangabe muss er hinter sich lassen, um zu ihr zu gelangen. Dann erklingen Operetten und Walzer, dann wird der Blick frei für Schlösser und Riesenrad.
Auch das sind Blickwinkel. Wer aus Norden oder Osten, Süden oder Westen kommend die Stadt betritt, erfährt sie je anders, erlebt sie anders. Die Stadt erzählt viele Geschichten, unterschiedliche Geschichten. Morgen fährt das Schiff weiter. Neue Blickwinkel kommen in Sicht.