„Heute ist Donnerstag. Es ist neun Uhr. Die Außentemperatur beträgt zurzeit achtzehn Grad.
Ich frühstücke im Bord-Restaurant. Das genieße ich. Muss mich eine Durchsage an Wochentag und Uhrzeit erinnern? Bin ich zu spät aufgestanden? Frühstücke ich zu lange? Wird das Büffet abgeräumt oder daran erinnert, dass es Butter, Marmelade und Brot am Buffet gibt, statt nach Brötchen-Tüte und Kühlschrank zu suchen?
Ich habe mich vom Zeitgefühl gelöst und vermisse es nicht. Vom täglichen Muss, von einer Welt voller Vorschriften habe ich mich gelöst. Eine Uhr habe ich nicht mitgenommen. Ich verlasse mich auf mein Urlaubsgedächtnis. Die Zeitlosigkeit genieße ich und bin mit mir und der Welt zufrieden.
„Bitte achten Sie auf die Durchsagen“, fordert die Bord-Information auf. Ich warte nicht darauf, dass der Wetterbericht jetzt vorgelesen wird. Reglementierungen und Informationskommandos aus dem Lautsprecher brauche ich nicht. Ich bin nicht in Sorge, Unwichtiges zu verpassen. Diszipliniert und kontrolliert werde ich wieder daheim am Schreibtisch. Ich lasse mir keine Ordnung nach fremdem Gusto aufbürden und wühle auch selbst nicht in fremden Nestern.
Ich habe keine Lust, jedem mein Woher? Wohin? zu erklären und Unergründliches zu begründen. Ich schätze die zufällige Verknüpfung von Ereignissen und wehre mich gegen das Gebot „Du sollst dich nicht langweilen“. Ich bin froh, nichts tun zu müssen.
Ich weiß, dass meine Zeit an Bord von Tag zu Tag weniger wird, aber ich kann und will sie nicht festhalten. Hier bin ich nicht auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ich lebe nicht auf der Überholspur und gehöre nicht zu denen, die es nicht ertragen können, wenn nichts passiert. Mein Leben an Bord findet nicht im postprivaten Raum statt, in dem das, was ich mache, von Computern überwacht und gesteuert wird.
Den gestrigen Jubiläumstreff habe ich ignoriert. „Wir laden die Jubilare um 18 Uhr zum Umtrunk in die Lounge-Bar ein.“ Ich war noch nie auf einem Schiff, das zu so etwas einlud. Welche Jubilare waren gemeint? Mir ist nicht bekannt, wie ich das werden kann. Ich kenne Jubilare. In meiner Firma arbeitet jemand, der seit zwanzig Jahren dasselbe Auto fährt. Ein anderer macht seit Jahren mit derselben Freundin Urlaub. Vielleicht frage ich nach, was ich verpasst habe.
Eine Nachricht, die ich in meiner Kabine vorfand, hat mich irritiert. „Am Freitag wollen wir Sie mit einem Exklusiv-Menü verwöhnen. Wir bieten im Nebenraum ein Spezial-Menü an als Alternative zum Buffet.“
So schlecht ist das Essen nicht, dass als Ausgleich oder Wiedergutmachung ein kulinarisches Menü geboten wird. Klagen habe ich nicht gehört, wohl über drohende Übersättigung sprachen einige. Mit den Tischnachbarn verstehe ich mich gut. Warum soll ich ins Séparée? Als ich das Exklusiv-Angebot ansprach, zeigten sie sich ungehalten. Wer teilnehme, müsse vierzig Euro zahlen, obwohl Vollpension gebucht sei. Die gelte in dem Fall nicht, habe man gesagt.
Wem Kartoffelsalat schmeckt, hat keinen Appetit auf Weinberg-Schnecken. Jedoch gebe ich zu, mehr zu essen, als Hunger zu verspüren. Die Koteletts gibt es nicht in Einhundert Gramm-Portionen. Auf das, was ich bezahlt habe, verzichte ich nicht gern. Ich bin weder Minimalist, noch lebe ich im Schongang. Am besten frage ich nicht, was mit den Salaten, den Koteletts und den Gemüse-Bergen geschieht, die sich am Büfett häufen und nicht gegessen werden. Zum Frühstück bietet man sie nicht an. Ob sie entsorgt werden, obwohl sie für jede Menge Mahlzeiten reichen würden? Ich möchte nicht mit schlechtem Gewissen nach Hause fahren.
Eine andere Empfehlung werde ich mir dagegen nicht entgehen lassen: „Um 16 Uhr will Sie ein Magier verzaubern. Er freut sich auf Sie.“ Zaubern streichelt meine Seele. Der Magier kann mit mir rechnen. Er soll mich nicht verzaubern, aber einen Zauber von der Reise nehme ich gern mit heim.
Dort stellt sich auch das Zeitgefühl wieder ein.