Bruchlinien

pendeluhr

Wahrheit ist obdachlos, beklagt ein dänisches Sprichwort und widerspricht der biblischen Erfahrung, Wahrheit mache frei.

Wahrheit sei dem Menschen zumutbar, betont die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Dann schränkt sie ein, man könne an der Wahrheit auch verzweifeln.

„Wer sagt, was wahr ist, muss damit rechnen, im Regen zu stehen“, warnt eine Volksweisheit.

Welche Interpretation kommt der Wirklichkeit am nächsten? Ich will weder darüber reflektieren, noch  moralische Aufrüstung leisten. Mich verteidigen muss ich nicht. Anderen, die sich im Kollektiv-Trauma wähnen, Wege aus ihrer Agonie aufzeigen, sah und sehe ich mich nicht verpflichtet.

Ich nahm mir die Freiheit, mein Leben neu zu planen und an der richtigen Kreuzung abzubiegen. Um Betroffene bzw. um jene, die ratlos zurück bleiben, kann man sich kümmern und ihnen Mut machen. Legten alle darauf Wert, auch jene, die auf den Zug der Empörung aufgesprungen waren? Ich hatte nicht den Eindruck.

Einige packten ihre Feldstecher aus und beobachteten mich mit den Augen des mythologischen Ungeheuers Argus. Wie in der Geschichte von der Prinzessin im Märchen suchten sie nach der Erbse, die ihr Unbehagen hervorrief.

Urteil und Vorurteil fielen zusammen. Es fiel nicht allen leicht, mit der neuen Zeitrechnung umzugehen, die ich ihnen aufgezwungen hatte und die jenseits ihres Begreifen-Wollens lag. Sicher war ihre Unsicherheit.Manchen hatte es Sprache und Gesprächsbereitschaft verschlagen.

Sie gehörten zu mir und waren plötzlich nicht mit mir. Entfremdung zwischen Personen, die sich lange wohlgesonnen und jetzt fern voneinander waren. Freunde und Bekannte, die nichts mehr von sich hören  ließen.

An gewissen Türen wurde signalisiert: Bitte nicht stören. Türen schienen verriegelt, als ob feindliche Mächte ins Haus dringen wollten. Wurde geöffnet, hatte ich den Eindruck, von einem anderen Stern zu kommen und ein Gast zu sein, der sich eingeladen hatte, aber nicht willkommen war.

Störungen im Personen-Nahverkehr. Ich war nicht jemand, mit dem sie, sondern über den sie reden wollten. Vor Häme war ich nicht gefeit.

Ich schien mich in der Fremde aufzuhalten. Vertrautes war nicht mehr vertraut. Dass Vertrauen ein solch zerbrechliches Gut ist und auf Miniaturgröße schrumpfen kann, hatte ich nicht bedacht. Einiges, einige musste ich zurücklassen, ohne Abschied nehmen zu können.

Mich ließ das nicht gleichgültig. Fürchtete man sich vor etwas, wusste aber nicht wovor? Wer hatte sich von wem entfernt – sie von mir, ich von ihnen? Wer hatte sich wem entfremdet? Ich war unter empörungsbereite Blicke geraten, unter Augen, die Abneigung und Abwehr signalisierten.

Es begann das Vergessen. Orte, mit denen sich konkrete Ereignisse verbanden, drohten zum Niemandsland zu werden. Ich passte nicht mehr hierher. Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes verblassten.

Sollte ich das ignorieren oder Klartext reden? „Wiedererkannt hat ihn nur sein alter Hund.“ Das beklagt der in der DDR aufgewachsene Schriftsteller Günter Kunert in einem Gedicht, in dem er die Beziehungen der Menschen im wiedervereinigten Deutschland beschreibt.

Bruchlinien zeigten sich, die Ressentiments aufdeckten. Sie offenbarten, wie wenig belastbar unser Verhältnis gewesen war. Vergangenes lieben, Gegenwart nicht wahrhaben wollen – eine beklemmende Erfahrung. Es waren jene da, die zu mir hielten, und andere, die mich fallen ließen.

„Kennen wir uns nicht?“ hätte ich fragen können. Fluch und Segen lagen dicht beieinander. Erfahrungen, die sich nicht weg wünschen ließen. Der Neubeginn hatte seinen Preis.

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