Eine geheimnisvolle Welt mit eigenen Gesetzen scheint sich hinter Kirchenmauern zu verbergen. Wer sich auf sie einlässt, dem erschließen sich überraschende Perspektiven. „Orte zu erleben, die man so in Mönchengladbachs Kulturszene nicht zu sehen bekommt“, war Ziel des „Forum Kultur der SPD Mönchengladbach“, das auf die Orgelempore von St. Helena in Rheindahlen einlud.
Die Begegnung mit der Orgel, die wie ein Orchester fungiert, begann für die kleine Gruppe aber nicht auf der Empore, sondern unten im Kirchenraum.
Musik und Raum gehören zusammen, erklärte Reinhold Richter, ehemals Schüler von Viktor Scholz und seit 1982 Kantor und Organist an St. Helena, seinen überraschenden Einstieg. Es ging ihm nicht in erster Linie darum, ihm über die Schulter zu schauen und der „Königin der Instrumente“ zu lauschen. Die Orgel in St. Helena erzählt Geschichten.
Auch die Kirche, die aus ehemals zwei Kirchen besteht und in der die jetzige Seifert-Orgel ihren Platz fand, hat ihre z. T. leidvolle Geschichte. Der Organist verbindet diese Geschichten mit seiner eigenen Geschichte. Mit diesem Raum ist er verbunden. Er ist nicht sein Zuhause, aber er fühlt sich in ihm zuhause. Ihm war glaubhaft anzumerken, was der Geiger Isaac Stern von der Musik schlechthin sagt: Das kunstvoll vorgetragene Spiel an der Seifert-Orgel am Ende der fast zweistündigen Kirchen- und Orgel-Begegnung ist nicht einfach sein Beruf; er lebt und erlebt das, was er vorträgt. Die Zuhörer beeindruckte das.
Die Gruppe traf sich zunächst mit ihm am Taufbecken im Osten des ehemaligen Langhauses der Kirche, dann an der Truhenorgel im Chorraum. Der weiche Klang dieser kleinen Orgel, den Reinhold Richter an Beispielen demonstrierte, überraschte die Zuhörer. Zu verdanken ist er den hölzernen Pfeifen dieses Orgel-Positivs. Wie aus heiterem Himmel ertönten unvermittelt intensivere Flötenklänge von der großen Orgel auf der Empore in den Kirchenraum. Nicht himmlische Heerscharen waren am Werk, sondern die Gattin des Organisten, die zusammen mit ihrem Mann das Lob der Orgel in St. Helena verkündet. In diese besondere Form der Verkündigung stimmt auch die beeindruckende Altar-Insel ein, die von dem Krefelder Bildhauer Klaus Simon geschaffen wurde.
Die Internetseite „Helenamusik-Rheindahlen“ erwähnt eine Aussage des französischen Schriftstellers Victor Hugo: „Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann, worüber zu schweigen aber unmöglich ist.“ Etwas nicht in Worte fassen können und es dennoch kundtun, vergleichbar der wortlosen und dennoch tönenden Orgel, die „zur Ehre Gottes und zur Freude der Menschen“ erklingt. Die Zuhörenden spürten diese Spannung und folgten Martin Luthers Mahnung: „Wenn man lauscht, schwatz nicht dazwischen und spare dir deine Weisheit für andere Zeiten.“ Vielleicht wurde ihnen bewusst, dass die Klangfülle und die unterschiedlichen Ausdrucksweisen dieser „Königin der Instrumente“ Eindrücke vermitteln, die in unserer lauten Alltagswelt im wahrsten Sinn des Wortes übertönt werden.
Das SPD-Kulturforum hatte nicht zu einer religiösen Feierstunde eingeladen. Man musste nicht fromm oder religiös sozialisiert sein, um dabei sein zu dürfen. Einer der Teilnehmer flüsterte mir zu, er habe das Gefühl, an einem quasi liturgischen Akt teilzunehmen. Das Orgel-Erlebnis fand im Sakralraum Kirche statt. Nicht viele von denen, die an diesem Abend für einige Zeit am Altar standen, werden eine Kirche schon einmal von diesem Punkt aus erlebt haben.
Nicht verhehlen konnte der Rheindahlener Organist, dass der Orgel in den Gottesdiensten der katholischen Kirche nicht jene eigenständige Bedeutung zukommt wie das in der evangelischen Kirche der Fall ist.
An der Truhenorgel und auf der Orgelempore ging es nicht um eine Einführung in die verschiedenen Facetten der Orgel-Literatur. Reinhold Richter zeigte an den von ihm vorgetragenen Beispielen, dass die Orgel mit ihren vielen Registern eine Klangfülle zu vermitteln imstande ist, die Zuhörer in ihren Bann ziehen kann.
Die Begegnung mit Reinhold Richter, mit seiner Kirche und seiner Orgel hinterließ an diesem frühen Abend unterschiedliche Emotionen. Es war nicht nur der krönende Abschluss auf der Orgelempore, der nachhaltig faszinierte. Nach dem Verlassen der Kirche wurde einem bewusst, dass sich die Welt draußen an anderen Klängen orientiert, denen sich manche nur ohrenbestöpselt aussetzen. Aber etwas von den Klängen und Emotionen auf der Orgelempore nahm vermutlich jeder mit auf den Heimweg.