Ohne Berufungserlebnis

Erfahrbare Personen und Begegnungen vor Ort prägten meine Erfahrungen mit der Kirche. Ein in der Pfarre tätiger Kaplan war durch Kriegsverletzungen gehandicapt. Es kam vor, dass er einen epileptischen Anfall während der Messfeier erlitt und diese nicht zu Ende führen konnte. Priester waren keine himmlischen Geschöpfe, sondern verwundbar und verletzlich wie alle Menschen.

Gelegentlich fielen Begriffe wie Berufung, Verzicht, Opfer. Wen Gott rufe, dem verheiße er Großes, ließ der Pater durchblicken. Zuhause erzählte ich das nicht. Von solchen Verheißungen hielt Mutter nichts. Gelassen ging sie damit um, zu den „kleinen Leuten“ im Dorf zu gehören. Deren Leben spielte sich in überschaubaren Realitäten ab. „Berufung“ kam darin nicht vor.

Von einem außerordentlichen Berufungserlebnis, einem Fingerzeig des Himmels oder sonstigen Eingebungen weiß ich nichts. Keine Insel Patmos, die für den Evangelisten Johannes Ort seiner Berufung war. Keine Marien-Erscheinung. Nirgendwo übermächtige Gewalten und Gestalten.

Der Missionar dagegen hatte eine Vision. Gott habe sich ihm in einem Gottesdienst geoffenbart. Ich konnte ihm kein Schlüsselerlebnis nennen. Was sich im rheinisch-katholischen Dorfleben ereignete, wurde schnell ruchbar. Die Leute zuckten nicht uninteressiert mit den Achseln, wenn sich Neuigkeiten ereigneten. Man wusste voneinander. Man beobachtete einander. Berufungs-Erlebnisse hätte man mir angesehen.

Als ich eines Tages tatsächlich Zukunftspläne schmiedete, war ein Besuch auf der missionarischen Urwald-Station des Paters kein Thema mehr. „Mutter Kirche“ konnte mit mir nicht anders rechnen als bisher. Ich interessierte mich für die Schullaufbahn. Kunst und Kunstgeschichte zählten zu meinen bevorzugten Interessengebieten.

Zu Anderem oder Höherem fühlte ich mich nicht berufen.

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