Enthaltsamkeitsübungen

Ich denke daran, wie lange ich vor der Telefonzelle warten musste, wenn ein Mitstudent sie gepachtet zu haben schien. Ein Hotel in der Nähe des „Kastens“ – so titulierten wir Theologiestudenten die Unterkunft, in der wir während der Studienjahre an der Universität wohnten – ermöglichte uns, telefonische Kontakte mit der Außenwelt zu knüpfen. Ein Handy hatte noch niemand erfunden.

Dass wir nicht nur ein theologisch-religiöses, sondern auch ein privates Leben führten, stand nicht in der Hausordnung. In der Schutz- und Trutzburg galt Telefonverzicht als Einübung in die Enthaltsamkeit. „Niemand kann ans Telefon gerufen werden. Nur dringende fernmündliche Mitteilungen werden weitergegeben.“ Die Oberen gingen davon aus, dass fernmündliche Gespräche kein kommunikatives Bedürfnis künftiger Priester waren.

Diverse Vorschriften galt es zu beachten. „An privatem Wandschmuck kann im eigenen Zimmer ein gerahmtes Bild in der Größe von 30-40 cm an vorgesehener Stelle aufgehängt werden.“ Was als privater Wandschmuck galt, musste nicht definiert werden. Dem Konterfei einer Schönheitskönigin aus der Welt draußen wäre der Einlass versagt worden.

Tabuisierungen dieser Art entzogen sich rationaler Begründung. Sie zählten zu den Trennungsritualen auf dem Weg zum Priestertum. „Entbehre gern, was du nicht hast“: Christian Fürchtegott Gellert, Dichter und Moralphilosoph, hätte an den Anordnungen seine Freude gehabt.

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