Die Dauerbrause

Arztbesuche gehören nicht zu den Ereignissen, über die ich mich freiwillig äußere. Erst recht wecken Ratschläge von Gesundheitspropheten und solchen, die es sein wollen, in mir Selbstschutz-Gefühle. Aber die Dauerbrause hat mich fasziniert. Andauernd brausen, so schmutzig kann man nicht sein – muss man auch nicht. Hauptsache: Es ist gesund.

Direkt nach dem Frühstück liege ich auf einer triefend nassen Pritsche. Vor mir hat eine andere Person dauergebraust. Den ganzen Tag wird auf allen Pritschen, Marke Zeltlazarett, gebraust. Unaufhörlich rieselt es aus dem Brausekopf herunter. Wie es wohl Frau Martini – ich bin eine der Badefrauen, hat sie gesagt – schafft, trockenen Leibes das Tuch zu wechseln, auf dem der Dauerbrauser vorher gelegen hat? Auf dem Rücken liegend – die Ströme fließenden Wassers sollen sich zuerst auf meine Vorderseite ergießen – betrachte ich die urtümlich anmutende Laufschiene, über die ich mit einer Art Flaschenzug den Brausekopf dirigieren kann. Etwa zehn Minuten lang auf eine Stelle, sagt Frau Martini. Wann sind zehn Minuten vorbei? Ich kann nicht auf die Uhr schauen. Meine Habseligkeiten liegen nebenan in der Kabine. Eine Stunde lang soll ich dauerbrausen: dreißig Minuten von unten nach oben, Rückenlage. Dann Kehrtwende und eine halbe Stunde lang bäuchlings von oben nach unten, wahrscheinlich wegen der Symmetrie.

Wohin wird das Wasser fließen? Tag für Tag, andauernd. Ich denke an meine Wasserrechnung daheim. Vielleicht brauchen die das Wasser woanders wieder; schmutzig kann es nicht sein nach einer Stunde brausen. Gerade wäge ich Einsatzstellen ab zwischen Küche und Klo, da erfolgt die Zeitansage der Badefrau. Halb zehn. Umdrehen. Bewässerung der Rückenpartie.

Während es angenehm auf meine Schultern prasselt, überlege ich, von welchen Leiden ich geheilt werden möchte. Ich sei so hektisch, sagt meine Frau. Ob das davon besser wird? Frau Martini macht mir Mut. Man müsse fest daran glauben. Ich frage mich – inzwischen werden südlichere Zonen bebraust – ob eine Stunde ausreicht. Morgen werde ich mit dem Arzt sprechen. Bei der Voruntersuchung hatte er mir in die Augen geschaut und mit der Stirn gerunzelt. Ob ich hin und wieder etwas vergessen würde. Das wurde bestätigt – von meiner Frau.

Die Gedanken sind frei. Das fließende Wasser verleiht ihnen Flügel. Es denkt in mir. Ich lasse denken. Ich genieße das. Die Brause müsste schon die Fußsohlen erreicht haben. Das mit den zehn Minuten ist mir entgangen. So, das war’s – eine ziemlich nahe Stimme macht mir deutlich, dass jede Dauer ein Ende hat, auch der Tiefschlaf, aus dem mich Frau Martini weckt. Er hat mir gut getan.

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