Nicht alle Bäche fließen

Dass unsere Stadt den Bach hinunter geht, müssen die Bürger nicht als Kränkung empfinden. Bäche und Wasserläufe im Stadtgebiet erfreuen sich zunehmenden Interesses – auch dann, wenn ihre Schönheit nur noch zu erahnen, aber nicht augenscheinlich ist. Zwölf blaue Schilder verkünden, dass die Stadt am Bach liegt – am glänzenden, glatten oder trägen Bach – je nachdem, wie es den Wortdeutern gefällt. Seine Quelle scheint versiegt. Was unterirdisch weiter strömt und der Niers entgegen eilt, ist er nicht der Bach selbst. Dennoch: Der Bach muss nicht sichtbar fließen, um ihm folgen zu können. „Ich sehe, was du nicht siehst“, flüstern die Schilder dem Bach-Sucher zu. Mach dich mit uns auf den Weg. Entdecke mit uns deine Stadt.

Am Abteiberg schlängelte sich der Bach vorbei. Dass er dort später einer Brauerei begegnete, kam deren Brunnen zugute. Viele Fische aus dem Bach beendeten ihr Leben auf den Tellern der Benediktinermönche in der Abtei. Fische durften immer, auch in der Fastenzeit, verzehrt werden. „Auf dem waldigen Hügel in der Nähe eines Bächleins” hatte Erzbischof Gero Gott und dem Märtyrer Vitus ein Kloster bauen lassen.

Ehe sich das Bächlein dem Schoß der Niers überließ, setzte sein Wasser viele Mühlen in Gang. Ein Mühlenbach war der Bach. Die Mühlräder drehen sich nicht mehr. Die Mühlsteine mahlen nicht mehr. Es klappern keine Mühlen am ehemals rauschenden Bach. Der Bach verlor sein irdisches Gesicht. Er wurde ein Unterirdischer. Statt Wasser fließt Abwasser. „Fest gemauert in der Erden“ gibt er dem Regenwasser seinen Lauf.

Schon lange rümpften die am Bach Wohnenden die Nase wegen des Bachs. Sie wuschen nicht mehr ihre Wäsche in ihm. Die Bleichwiesen hatten ausgebleicht. Umweltschutz fand weder im Sprachjargon noch im Umgang mit dem kostbaren Nass statt. Die Lauge aus den Blättern der Färberwaidpflanze diente zwar den Tuchfärbern, die Wolle und Leinen in ihr färbten. Aber das blaue Waid-Gold überforderte den Bach. Er starb dahin und mit ihm seine Schönheit und seine Wohlgerüche. Ihm half auch nicht das klare Bachwasser, das ihm zufloss. Man konnte es trinken, sagen Zeitzeugen. Und weil Glaube Berge versetzt, galt es als heilsames Augenwasser. Heilsam für den Bach wurde es nicht.

Die Erinnerung an ihn und die Mühlen ist geblieben. Diese haben die Zeiten nicht überdauert; aber ihren Namen haftet Unsterbliches an. Vergesst nicht die Zeit, in der wir gemahlen haben, verkünden sie. Die Schilder und Plätze mit den Mühlen-Namen mahnen: Geht sorgsam mit dem Wasser um. Es ist Gabe der Natur. Es ist Gabe und Aufgabe.

Unerwünschte Begleiterscheinungen des Fortschritts ließen schon vor zweihundert Jahren Rousseau ein „Zurück zur Natur“ fordern. Gibt es ein Zurück auch für den Bach? Fest gemauert in der Erde könnte er sich schwer tun, wieder zum glänzenden, fließenden Bach zu werden. Aber es gibt ja die Schilder, die ihn unsterblich machen.

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