Atlantik genießen

Fünf Tage Atlantik. Zweitgrößter Ozean. Hundert Quadratkilometer Wasser, einschließlich der Nebenmeere. Nur Schiff. Und das bei diesem Wellengang?  Nichts war mit „Liegestühle stehen Ihnen kostenlos zur Verfügung“. Die standen wie Fischstäbchen in Reih und Glied auf dem Sonnendeck. Regenschutz und Sturmhauben. Kein Sonnenbad. Aber Kickerspiele, Kostüme basteln, Spanisch-Kenntnisse auffrischen, Kinderlieder lernen.

Wenn sich ein Schiff mit 22 Knoten durch den Atlantik bewegt, hat man Zeit. Ich entschied mich für Regenjacke und einen Platz in einer windgeschützten Ecke. Lesen, schreiben, faulenzen. Das Schiff bot Raum für erholsames Alleinsein. Atlantik genießen, Wellenberge erleben, Wortfetzen auffangen. „Ich habe Shorts und Sommerblusen eingepackt.“ Die Damen entschwanden. In die Sauna. Zu Freizeitaktivitäten, die verhinderten, in Langeweile abzudriften.

Der Katalog beschrieb das spektakuläre Ambiente und die heißen Nächte an der Bar. Er pries die Unterhaltungsmaschinerie und die Rundumbetreuung, die alle Bedürfnisse zu befriedigen versprach. Von möglicher stürmischer Überfahrt erwähnte er nichts. Rasende Wellenberge, wie sie von Erdbeben oder Vulkanen unter der Meeresoberfläche verursacht werden, rasten wahrscheinlich nicht auf das Schiff zu. Aber je kleiner man sich fühlt gegenüber nicht abschätzbaren Gewalten, desto größer und bedrohlicher erscheinen sie einem. Hatte ich nicht gelesen, für geübte Surfer bedürfe es keines besonderen Mutes, sich dem Rausch der Wellen zu überlassen? Haushohe Wasserlawinen sind ihnen kein Graus. Sie reiten todesmutig auf ihnen zu Tal – auf der Suche nach der wahren Freiheit, die kein noch so hoher Wellenberg zu beschneiden vermag.

Ich vertraute eher der biblischen Weisheit, dass Glaube Berge versetzen kann, auch Wellenberge. Warum mussten wir drohenden Wellenbergen entgegen steuern? Gab es nicht Ausweichrouten? Wenn die Israeliten trockenen Fußes das Rote Meer passieren konnten, wie die Bibel erzählt, warum sollten dann nicht auch wir dem Sturm und den Wellen entgehen können? Die Hoffnung erwies sich als Trugschluss. Der Himmel verfinsterte sich. Die Berge wurden höher. Die Wellen berauschten sich an sich selbst. Kein Wassererlebnispfad. Was war mit dem Glauben, der Berge versetzen soll? Ich hatte mich impfen lassen gegen Tetanus und Hepatitis, nicht gegen Stürme und Windstärke Acht. Dann ließ der Wind nach. Die Berge wurden kleiner. Der Himmel hellte sich auf. Das Meer hatte ein Einsehen.

Es blieb erstaunlich gelassen an Bord. Ängste verflogen. Rettungsringe und Rettungsboote blieben an ihrem Platz. Krankheits- und Leidensgeschichten verebbten. Mägen gewöhnten sich an gelegentliche Schräglagen des Schiffs. Wer es sich zutraute, tat seinem Magen etwas Gutes. Man fand Zeit, Neues zu entdecken. Das Hohelied auf den Umweltschutz beispielsweise. Energie- und Umweltauflagen, Abfall- und Abwasserrecycling würden strikt eingehalten, stand auf der Tafel. Man bemühe sich, die Meeresumwelt zu schützen und Abfälle, die in den Häfen zu entsorgen seien, auf ein Minimum zu beschränken. Warum immer mehr Kreuzfahrtschiffe gebaut werden und dazu immer größere, die immer mehr Müll produzieren, verriet die Tafel nicht. Fünfzig Tonnen flüssige und feste Abfälle fallen pro Woche und Schiff an, wird gesagt. Werden sie entsorgt in den dafür vorgesehenen Entsorgungsstationen? Wie viele landen im Meer? Bei einer maximalen Meerestiefe von neuntausend Metern relativieren sich Gewissensbisse.

Ich zog mich in die Kabine zurück. „Bitte nicht stören“. Bis zum Abendessen hing der Hinweis für den freundlichen Kabinenservice außen an meiner Kabinentür.

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