Mein Beipackzettel

„Eine Tablette pro Tag“, sagte mein Arzt und schickte mich mit dem Rezept in die Apotheke. „Hat der Arzt gesagt, wie Sie die Tabletten einnehmen müssen?“ fragte der Apotheker. „Gibt es Ärzte, die das nicht mitteilen?“ Der Apotheker überhörte die Rückfrage.

Was mir mühelos erschien, da es kompetent verordnet wurde, war komplizierter, als ich dachte. Mein Verständnis hielt sich in Grenzen. Es gibt zusätzlich zum Doktor tausend Helferleins, die mit ihren Bescheidwisser-Infos ärztliche Botschaften, die aus fremden Galaxien stammen, in Gesundheits-taugliche Alltäglichkeit umsetzen.

Mit der Einnahme des Medikamentes sollte ich umgehend beginnen. Zehn unscheinbar große bzw. kleine Tabletten, eingeschweißt in eine „zehn mal vier“ Zentimeter große bzw. kleine Folie, erfreuten sich der Beilage eines „sechzig Mal achtzehn“ Zentimeter großen sogenannten Beipackzettels. Der Weg vom Doktor zum Apotheker zu mir ist vermutlich so lang, dass ich unterwegs vergessen haben könnte, wie krank ich bin und wofür oder wogegen mir etwas verordnet wurde.

Ich beherzigte die Mahnung: „Vor der Einnahme sollten Sie den Beipackzettel lesen, um sich über die richtige Einnahme und mögliche Nebenwirkungen zu informieren.“ Der Doktor hatte das nicht als notwendig erachtet. Jedenfalls erinnerte ich mich nicht daran. Aber das eng bedruckte und mehrfach gefaltete Blatt wollte nicht umgangen und sorgsam gelesen werden. Da ich eine Lupe benötigte, vergrößerte sich das Blatt zudem über die angegebenen Maßen hinaus.

Ich kann inzwischen die Behauptung eines Bekannten nachvollziehen, vom Lesen des Beipackzettels Arthritis bekommen zu haben.

Auch ich hätte Gründe anführen können, nicht lesen zu müssen. „Die Zeit dafür sollten Sie sich nehmen.“ Die Aufforderung war fettgedruckt nicht zu übersehen. Ich durfte sie nicht ignorieren. Allerdings schloss ich nicht aus, dass meine Erkrankung einen erfolgreichen Selbstheilungsprozess hinter sich gebracht haben könnte, ehe ich mit dem Lesen fertig war. Man hätte Vorabend-Serien füllen können. Vielleicht ist es aber ein ernstzunehmendes Altersanzeichen, wenn ich für das Lesen derart viel Zeit aufwenden muss, dass meine Erkrankung ohne Einnahme des verordneten Präparates zwischenzeitlich geheilt ist.

Ich gebe zu, die „sechzig Mal achtzehn“ Zentimeter nicht Wort für Wort entziffert zu haben, da mir nicht ausreichend viele Lexika zur Verfügung stehen, um alle Fachbegriffe verstehen und einordnen zu können. Dass dies bei meinem Bekannten depressive Verstimmung auslöste, hat sein Arzt bestätigt und ihm ein antidepressiv wirkendes Medikament verordnet.

Ich habe mich auf die Seite der Verzichtler geschlagen und eigenverantwortlich den Beipackzettel entsorgt. Der Pharma-Industrie halte ich zugute, mir für ein paar Tabletten einen Rucksack für mein ganzes Leben zu packen. Die Goodwill-Aktion zerschellt aber an meinem Ehrgeiz, mich mit einer unansehnlich kleinen Einkaufstüte für in Folie eingeschweißte unscheinbar große Tabletten zu begnügen.

Sollte ich, wie ich hoffe, gesunden, werde ich mich beim Doktor verteidigen. Ich bin ein Naturprodukt. Abweichendes Verhalten sehe ich als normal an.

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1 Kommentar zu "Mein Beipackzettel"

  1. Joachim Müller | 19. März 2019 um 12:40 |

    Noch gehöre ich nicht zu den Personen, deren Mahlzeit zum Teil aus einer Handvoll verschiedener Arzneipräparate besteht, um den Beschwerden verschiedener Krankheiten entgegen zu wirken. Ich frage mich, wie bewältigen die Menschen die geistigen Anforderungen, die sich aus der Literatur von x verschiedenen Beipacklisten für einzelne Präparate ergeben. Hinweise auf Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten untereinander zur weiteren Recherche im Internet „gegoogelt“ müssen doch zwangsläufig zu der Entscheidung führen, gar nicht mehr in die Papiere zu sehen und dem „Arzt seines Vertrauens“ zu vertrauen. Damit lebe ich jedenfalls ganz zufrieden.

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