Mit allen Sinnen.
Ein Gottesdienst-Erlebnis mit der Rumänisch-Orthodoxen Gemeinde Mönchengladbach

Ikone in der Nikolai-Kirche in Pleven Bulgarien; Foto: PJD

Die Liturgie beginne um 9 Uhr im Viersener Papst Johannes Zentrum, hatte Pfarrer Cosmin Stan, zuständig für die Rumänisch-Orthodoxe Gemeinde Mönchengladbach-Viersen, mir gesagt. Zu meinem Erstaunen saß ich um 9 Uhr allein im großen Kirchenraum, während am Altar die Proskomidie d. h. der  erste Teil der orthodoxen Liturgie vonstattenging, bei der die eucharistischen Gaben für die Feier vorbereitet werden.

Dennoch schien es selbstverständlich zu sein, dass erst gegen10 Uhr weitere Gottesdienstbesucher eintrafen. Einzelpersonen, Väter und Mütter mit ihren Kindern, Mütter mit Babies auf den Armen. Im Vorraum hatten sie eine Kerze erworben, die sie an einer brennenden Kerze im Altarraum anzündeten und dem Pfarrer überreichten. Wollten sie zum Ausdruck bringen, dass sie, von draußen kommend, einen heiligen Raum betraten? Wollten sie in seinem Licht das Alltägliche hinter sich lassen und Gottes Hilfe und Erbarmen erbitten? Es schien so zu sein.

Auch die Engel und Heiligen wurden in diesen gottesdienstlichen Prozess mit einbezogen. Die Ikonen an der Altarwand erzählen von ihnen. Engel und Menschen, die dargestellt sind, werden für den gegenwärtig, der sie verehrt. Das war zu spüren, obwohl ich es nur aus der Distanz wahrnehmen konnte.  So wie eine Ikone, ein Bild oder ein heiliges Buch auf dem Ambo berührt und geküsst wurde – von Kindern und Erwachsenen – erlebte ich: Das war ein Gottes-Dienst „mit allen Sinnen“.

Habe ich solche Zeichen von Zärtlichkeit schon einmal in meiner Kirche erlebt? Ich erinnere mich nicht. „Wie kann man ein Bild oder gar den Boden küssen?“ fragt der aufgeklärte Mensch und Christ. Für einen orthodoxen Gläubigen verkörpern Ikonen und als heilig betrachtete Gegenstände die geheimnisvolle Gegenwart dessen, von dem sie erzählen. Die Geschichte eines Engels, eines Heiligen, eines Buches wird durch die sinnliche Berührung zur eigenen Geschichte. Aus Vergangenheit, aus dem Anderen wird persönliche Gegenwart.

Der Pfarrer registrierte jeden Neuankömmling, küsste seine bzw. ihre Stirn und setzte  den gottesdienstlichen Ritus fort. Mit dem Weihrauchfass beräucherte er zum wiederholten Mal den Altarraum, die heiligen Geräte, die Ikonen. Das Weihrauchfass schwingend ging er durch den ganzen Kirchenraum. Der Duft des Weihrauchs sollte wohl die irdischen Sinne beflügeln und sie empfänglich machen für das Überirdische. Alle Aktivitäten – Sehen, Hören, Riechen, Berühren – sollen die Menschen in die Nähe Gottes führen. Es wird „Göttliche Liturgie“ gefeiert. „Wer es fassen kann, der fasse es“, steht im Neuen Testament der Bibel.

Immer mehr Kinder waren inzwischen anwesend. Verstandenen sie, was hier vorging? Eine Gegenfrage: „Verstehe ich alles, was hier geschieht?“ Nein, gebe ich zu. Von der liturgischen Sprache, der ich mich drei Stunden lang aussetzte, verstand ich nur „Alleluia“, „Amen“ und „Doamne miluieste – Herr, erbarme Dich“. Von den Antiphonen und Lesungen, von der Doxologie (Lobpreis der Heiligen Dreifaltigkeit), von der Ektenie (Fürbittgebet) weiß ich nur, dass sie in diesem Gottesdienst ihren Platz hatten.

Die Rumänisch-Orthodoxe Kirche ist eine romanisch-sprachige Orthodoxe Kirche. Das beruht auf der geschichtlichen Vergangenheit Rumäniens, das lange Zeit hindurch römische Provinz war. Bis heute orientieren sich Kultur und Sprache Rumäniens nach Westen. Diese Sprache beherrsche ich leider nicht.

Ich begann zu verstehen, dass es in dieser Gemeinde keine Kindergottesdienste geben muss. Die Kinder wachsen hinein in das Erlebnis und Verstehen der Liturgie. Nie zuvor ist mir das so bewusst geworden wie an diesem Vormittag. Was man nicht versteht, muss man nicht wissen. Das gilt nicht nur für Kinder.

Die heiligen Gaben, die beim abschließenden Kommunionempfang ausgeteilt werden sollten, waren mit einem Velum verhüllt. Der Einzug Gottes unter den Gestalten der Gaben von Brot und Wein ist unbegreiflich und mit unseren Augen nicht wahrnehmbar. In diesem Gottesdienst machte ich eine neue Erfahrung: Ich muss nicht alles „verstehen“, was mein Leben bereichert. Manches bleibt verborgen und ist dennoch wichtig. Mein Alltag ist immer mehr von schattenloser Helligkeit, von allgemeiner Erleuchtung und Flutlicht geprägt. Die Nacht wird zum Tag. Dass Wichtiges im Leben im Verborgenen entstehen kann; dass mein Leben  Geheimnisse und Verborgenes braucht, wird zunehmend verdrängt.

Der Kommunionempfang nahte. In der orthodoxen Tradition stehen die Gläubigen während des Gottesdienstes. Das Stehen ist eine überlieferte Art der Gottesverehrung. Der Priester am Altar kniete nieder. Dem Beispiel folgten die Gottesdienstteilnehmer – vor den Stühlen, auf dem Boden. Eine erstaunliche Ruhe im Kirchenraum. Eine vor mir kniende Mutter ermahnte ihre Tochter zu schweigen. Dann verteilte der Priester die in Wein getauchten Brotstücke  – Leib und Blut Christi – mit einem Kommunionlöffel. Alle durften empfangen, auch das Baby, das soeben noch in den Armen der Mutter lag. Ich dachte an katholische Bischöfe, die ein Dokument erarbeiteten, um zu einer „verantwortbaren Entscheidung über die Möglichkeit eines Kommunion-Empfangs“ zu kommen.

Der Gottesdienst mit der Rumänisch-Orthodoxe Kirchengemeinde in Mönchengladbach, der Biserica Ortodoxa, hat mich beeindruckt. Die Gemeinde ist auf der Suche nach einem anderen Gotteshaus, weil ihr das Papst Johannes Zentrum demnächst nicht mehr zur Verfügung steht.

Bei einem gemeinsamen Mahl im Anschluss an den Gottesdient kam ich mit einigen rumänischen Teilnehmern ins Gespräch. Sie sprechen perfekt Deutsch, da die meisten von ihnen hier geboren und aufgewachsen sind. Aber sie haben eine „rumänische Seele“, wie einer betonte. Die Kirche habe neben ihrem Engagement im sozial-caritativen Bereich für sie eine große Bedeutung bei ihrer Integration, versicherte er mir. Hier möchten sie eine Atmosphäre schaffen und erleben, die zu ihrer Identität gehört.

Ikonen gehören in jedem Fall dazu. Nur Gott wird angebetet. Die Verehrung der Ikone soll aber Wege zu ihm aufzeigen. Die  Rumänisch-Orthodoxe Gemeinde wünscht sich einen Raum, in dem ihre Ikonen und sie selbst eine Bleibe finden. Sie wünscht sich einen festen Raum mit offenen Türen, in dem man die Welt des Alltags hinter sich lassen und in eine andere Welt eintreten kann.

Vielleicht weiß jemand Rat.

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