Vergelt’s Gott

Foto: PJD

Wir kannten uns. Genauer gesagt: Ich wusste, dass er tagsüber  auf dem Bahnhofs-Vorplatz anzutreffen war. Nicht sein Arbeitsplatz, sondern Aufenthaltsort.  Von mir wusste er, dass ich ihn nicht mit leeren Händen wegschickte, wenn er in Verlegenheit war und etwas benötigte.

Jetzt war es der leere Magen, der ihn zu mir trieb. Er habe seit zweiTagen nichts  gegessen und sei hungrig, gestand er. Das bedauerte ich, obwohl er sich mit Not-Situationen auskannte. Für ein paar lumpige Euro könne er den Hunger stillen, formulierte er indirekt sein Anliegen. Eine für ihn typische, unausgesprochene Bitte, die er gekonnt in eine Tatsachen-Beschreibung verpackte.

Ich verstand. Aber es geschieht zuweilen, dass ein paar Euro schon aufgebraucht sind, ehe der leere Magen sein Sättigungsgefühl erreicht hat. „Wohltat am falschen Ort ist gleich einer Übeltat“, gibt der altrömische Staatsmann Cicero zu bedenken.

„Du hast Glück“, sagte ich. „Die Gaststätte dort drüben bietet eine preiswerte warme Mahlzeit an. Den Wirt kenne ich. Ich werde anrufen und ihm sagen, die vier Euro für dich würde ich übernehmen.“

Perfekt schien mein Vorschlag nicht zu sein. Dennoch nickte der Freund mit dem leeren Magen kurz. Dann murmelte er etwas von umständlich, was ich auf mich bezog, und machte sich davon.

Wer nichts für andere tut, der tut nichts für sich. Diese Erkenntnis hielt ich mir zugute und beglückwünschte mich zu meinem Wohlverhalten.

Leider fiel mir erst Wochen später mein Versäumnis ein, dem Wirt vier Euro zu schulden. Das konnte auch daran gelegen haben, dass sich der Bahnhofsvorplatz-Steher nicht mehr bei mir gemeldet hatte. Üblicherweise tauchte er regelmäßig am Wochenende auf und versuchte  mich davon zu überzeugen, wie groß die Not in der Welt sei, und dass Gottes Gaben ungerecht verteilt seien.

Ich beschloss, mir in jener Gaststätte eine warme Mahlzeit zu gönnen und bei der Gelegenheit meine Schulden zu begleichen. Der Wirt ist ein gutmütiger Mensch. Er weiß, dass Güte, wenn sie nicht grenzenlos ist, keine Güte ist. Portionen, die er hungrigen Gästen serviert, wachsen mit der Güte, die er ihnen zukommen lässt.

Die zehn Euro, die ich ihm für zwei Mittagessen inklusive Trinkgeld reichte, genügten nicht. Er verlange vierundvierzig Euro von mir. Ich bat um eine Klärung.

Der Herr mit dem allzeit hungrigen Magen sei zehnmal mittags sein Gast  gewesen. Als Konsum-Verweigerer habe er sich nicht gezeigt. Ein  Getränk habe er ihm großzügig als Wirt spendiert. Das Essen müsse er mir allerdings in Rechnung stellen.

Hatte Marcus Tullius Cicero von Wohltat am falschen Ort gesprochen? Der Wirt sah sich keiner Schuld bewusst. Er war auf ein Mittagessen zu vier Euro fixiert sowie auf meine  Zusage, dafür aufzukommen. Der hungrige Gast verspürte jedoch nicht nur ein einmal Sättigungsbedarf. Er war sich meiner grenzenlosen Zuneigung sicher und hatte sich, fromm auf seine Art, nach jeder Mahlzeit mit „Vergelt’s Gott“ verabschiedet.

Die Beziehung zu Gott werde ich auf den Prüfstand stellen, obwohl er, wie ich zugebe, nicht jede Bagatelle prüfen kann, für die wir ihn als zuständig betrachten.

Möglicherweise hat er Gefallen an jenen Lebenskünstlern, die überall ihre Gönner haben, Helfer um sich scharen, felsenfest auf deren Güte setzen und davon satt werden. Man kann diese Menschen nicht ändern wollen, um sich selbst wohler zu fühlen.

Die Stelle auf dem Bahnhofsvorplatz ist seit Wochen verwaist.

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