Auf Nummer sicher

Das Haus, in dem ich während der ersten Studien-Semester zu wohnen hatte, war keine Verwahr-Anstalt. Dennoch bedurften wir Studierenden besonderer Fürsorge und Beobachtung. Die meisten empfanden sie als Überdosis. Dennoch habe ich nicht darüber nachgedacht, ob ich mich durch die Zwangsbetreuung behütet oder bewacht vorkam.

Unsere Beschützer verfügten nicht über heutige Hacker-Programme oder Viren, mit deren Hilfe sie in die Zimmer hätten spähen können. Das Überwachungs-System war handgestrickt. Ein Radio zu besitzen, widersprach der Gesetzestafel Hausordnung. Kopfhörer wären dienlich gewesen. Die gab es nicht. „Wer durch des Argwohns Brille schaut, sieht Raupen selbst im Sauerkraut“, schreibt Wilhelm Busch. Wir mussten  andere Wege erkunden, um uns abzusichern.

Nach welchen Ausreden hätte ich gesucht, wenn ich aufgefallen wäre? Hätte ich mein Radio, mit dessen Besitz ich die Grenze des Erlaubten überschritt, als ein Stück individuelle Freiheit verteidigt? Vermutlich hätten das Radio und ich vor der Ausmusterung gestanden. Ich hätte Umzugskartons für die Heimreise bestellen können.

Ein Schadenfreiheitsrabatt stand uns nicht zu. Deshalb empfahl es sich, als repressiv empfundene Maßnahmen hinzunehmen und auf „Nummer sicher“ zu gehen. Das verleitete dazu, opportunistisch sein Fähnlein nach dem Wind zu richten, Ausweich-Strategien zu entwickeln und Fluchtverhalten einzuüben.

Unangenehmer Nachgeschmack blieb. Der Stärkung des Charakters diente es nicht.

Heute, viele Jahre später, wundere ich mich, dass wir diese Situation nicht als Ghetto empfunden haben. Lag es daran, dass wir davon ausgingen, es handle sich um eine Ausnahme-Situation, die hinzunehmen war? Oder dachten wir an das Mikado-Spiel: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren?

Hätte die geistliche Führung Durchsetzungsvermögen und Kompetenz nicht dort beweisen sollen, wo es um Wichtiges ging? Stattdessen schien man sich in der Kunst des nicht angekündigten Erscheinens zu üben und richtete argwöhnisch die Augen auf Nichtigkeiten. Auch kleinste Fische sollten ins Netz gehen. Kontrollbesessen wurden Patrouillen-Gänge gestartet, obwohl es nichts zu kontrollieren gab. Dass solches Gebaren als Mischung aus pädagogischer Unfähigkeit und Hybris ausgelegt werden konnte, war offenbar den Verantwortlichen nicht bewusst. Es kann ihnen nicht gleichgültig gewesen sein.

Ein „Verstehen Sie Spaß?“ war nicht zu erwarten, wie das Gastspiel bzw. vorzeitige Ende etlicher Aufenthalte im Haus beweisen. „Wer sich nicht fügt, kann gehen.“ Diese Strategie erzeugte Unwillen, wurde aber praktiziert. Wer sie ignorierte,weil er sich selbst treu bleiben wollte, konnte als nicht anpassungsfähig eingestuft werden, und spielte ein Spiel mit hohem Risiko.

Man durfte um Verzeihung bitten, wenn man ertappt worden war, nicht aber die Erlaubnis einholen, das Angemahnte zu wiederholen. Die Obrigkeit ging davon aus, einer ihr auferlegten Verpflichtung nachkommen zu müssen. Nach ihrer Kompetenz musste sie sich nicht befragen lassen, erst recht nicht nach emotionaler Kompetenz. Führung war interne Angelegenheit, Ein auf  Respekt fußendes Vertrauensverhältnis entstand so kaum.

Dass heranwachsende Männer – achtzehn Jahre und älter – auch eigene Vorstellungen vom Leben hatten, persönliches Glücksstreben kannten und gelegentlich selbst handeln wollten, statt gehandelt zu werden, war kein Thema, über das es nachzudenken lohnte.

Die Autoritäten überschätzten, was sie mit ihren Handlungsmaximen erreichten. Sie unterschätzten, was sie langfristig hätten bewirken können, wenn sie ihren Schutzbefohlenen mehr Offenheit entgegengebracht und so ihre Herzen erreicht hätten.

Meine Eingewöhnungsphase und die Bereitschaft, in dieser Atmosphäre mich wohl zu fühlen, dauerten länger, als ich gedacht hatte.

Einige Semester lang hatte ich das Amt des Oberküsters im Haus inne. Dessen herausragende Bedeutung bestand darin, dass es noch einen Unterküster gab. Rollen, die wir spielten, und Funktionen, die wir übernahmen, wurden uns zugewiesen. Dass mich der Hierarchie-Vorteil, der sich durch mein Amt gegenüber den Mitstudenten ergab, zum Erfüllungsgehilfen machte, dessen sich die Obrigkeit bedienen konnte, habe ich mir nicht bewusst gemacht.

Heute reagieren wir allergisch, wenn wir uns registriert, erfasst, überwacht fühlen. Ein Theologiestudent, der berichtete, jeder Student habe sein eigenes Zimmer mit Fernseher und Telefon, jeder verfüge über einen Haustürschlüssel, lebt – verglichen mit damaligen Verhältnissen – in einer anderen Welt. Gut, dass er für sein Studium den Erfahrungsreichtum der Gegenwart nutzen darf. Dass es trotzdem immer weniger junge Leute gibt, die das Berufsziel „ Priester“ anstreben, ist ein Phänomen, mit dem ich mich hier nicht auseinandersetzen will.

Meine Skepsis, ob eine Auflistung verbotener Dinge das war, was ich mir vorgestellt hatte, blieb daheim nicht verborgen. Die nonverbale Begabung meiner Mutter, Zwiesprache ohne Worte führen zu können, ließ sie vermuten, was in mir vorging. Wenn sie noch leben würde, müsste ich meine Geschichte für sie nicht in Worte fassen. Auf einer Postkarte, die noch in meiner „Schatztruhe“ liegt, fragte sie: „Fühlst du dich wohl? Geantwortet habe ich meines Wissens nicht. Sie wusste es wahrscheinlich.

Ihre Besorgnis konnte ich nachvollziehen. Dass ich Priester werden wollte, statt einen „ordentlichen Beruf“ zu ergreifen, der unserer Familie eine finanziell gesicherte Zukunft garantierte, hatte sie hingenommen. Wir waren nicht mit Gütern gesegnet. Dennoch war die Befürchtung, man müsse sich mein Studium vom Mund absparen, unbegründet.

Der Verwaltungsrat eines Stiftungsfonds sicherte mir für die gesamte Studienzeit ein Stipendium zu. Ich konnte also davon ausgehen, dass mein Studienweg abgesichert war und materielle Schuldgefühle meiner Familie gegenüber nicht vonnöten waren. Dennoch blieben sie latent vorhanden.

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