Das Hohelied der Zivilcourage

Das Studium der Theologie war kein Heile-Welt-Studium. Als es um die Geschichte der Alten Kirche und um die Auseinandersetzung des Christentums mit seinem heidnisch-antiken Umfeld ging, wäre die Frage berechtigt gewesen, warum sich die Kirche heilig nennt. Der Professor schilderte mit sichtlichem Vergnügen das mäßig heilige Leben des Paulus von Samosata, Bischof von Antiochien, der als Häretiker exkommuniziert wurde.

Am theologischen Professorenhimmel war gleich einer Supernova ein Stern aufgegangen, der die Studenten in seinen Bann zog. Dass der Professor, Ordinarius für Fundamentaltheologie und kaum zehn Jahre älter als wir, mit seiner leisen, sonoren Stimme einmal als Leitstern, als Papst Benedikt, auf dem Stuhl Petri sitzen würde, hätte sich niemand vorstellen können. Er auch nicht.

In einer deutschen Stadt, in Konstanz, war sechshundert Jahre zuvor ein Papst gewählt worden. Dass es nicht unendlich lange dauern würde, bis auch in Rom wieder „Deutsch“ gesprochen und verstanden wurde, erschien nicht denkbar. In seinen fundamentaltheologischen Seminaren setzte er sich mit religionsphilosophischen Themen in den „Bekenntnissen“ des hl. Augustinus auseinander. Der junge Professor stellte kluge Fragen und gab überraschende Antworten. Er weckte auch meine Neugier.

An einer anderen Fakultät der Universität lehrte ein Professor Ästhetik und Kunstgeschichte. Seine Seminare und Vorlesungen waren beliebt und überfüllt. Ohne meine geistlichen Vorgesetzten zu informieren, belegte ich bei ihm Vorlesungen über „Malereien des Expressionismus“. Die damit verbundenen praktischen Übungen mit Pinsel und Bleistift über den weiblichen Körper schienen dem Studium der Theologie nicht unbedingt dienlich zu sein, wie mir später klar gemacht wurde.

Die Mal- und Zeichenversuche, die sich der keuschen Susanne widmeten, wurden von der geistlichen Obrigkeit, die davon  erfuhr, als theologisch unangemessen eingestuft. Mein körperliches und seelisches Heil geriet in Gefahr. Ich erhielt einen Verweis, verbunden mit der Ermahnung, mich in den Garten der unverfänglichen Tugenden, zu den keuschen Ikonen der Reinheit und der Keuschheit zu begeben. Meine Maltalente sollten mich nicht in selbst verschuldete Schwierigkeiten bringen.

Ich sah darin einen unverhältnismäßigen Eingriff in meine Privatsphäre. Mit dem notwendigen Respekt frage ich nach, ob es nicht auch außerhalb christlich-katholischer Lehrinhalte Erbauliches und Reizvolles gebe, mit dem Theologiestudenten sich beschäftigen und an dem sie Gefallen finden dürften. Auf die nicht immer keuschen Darstellungen weiblicher Anmut in der Sixtinischen Kapelle wies ich nicht hin.

Auch der Erzbischof zeigte sich offen für die schönen Künste, vor allem für die Musik. Beethovens Rondo „Die Wut über den verlorenen Groschen“ schätzte er sehr. Das Temperament dieses auf „ungarische Art“ komponierten Klavierstücks gefiel ihm. Er spielte Geige, erfreute sich an der Musik Mozarts, Strawinskys und Hindemiths und machte sich später mit Mozart-Schallplatten im Koffer auf den Weg nach Rom, zum Vatikanischen Konzil.

Ich machte einen Rückzieher vor denen, die Ergebenheit einforderten, und beugte mich dem Konformitätszwang. Mein Selbstwertgefühl war beachtlich, jedoch in der Defensive verankert. Ich fügte mich, um den weiteren Studiengang nicht zu gefährden – ein Verhalten, das ich später bedauerte. Dass ich von Kindheit an gelehrt worden war, nicht ohne Nachfrage etwas hinzunehmen, was ich nicht verstanden hatte, vergaß ich.

Warum fehlte mir der Mut, mein Interesse an Kunstgeschichte und ihren Objekten zu bekennen und zu verteidigen? Ich gab nach, weil ich Konsequenzen nicht einschätzen konnte. Einer klärenden Aussprache ging ich aus dem Weg. Da ich meine Vorgesetzten nicht über meine Mal-Studien und Mal-Interessen informiert und sie vor Tatsachen gestellt hatte, glaubte ich nicht argumentieren zu können. Wahrscheinlich hätten sie mich angehört und gemeinsam mit mir eine Lösung gesucht und gefunden, da ich grundsätzlich ihr Vertrauen besaß.

An einer Hochschule unserer Zeit stellten Studenten, unterstützt von ihren Dozenten, ein „Kochbuch der Gefühle“ vor. Dahinter stehe, so begründeten sie ihr Werk, die Erfahrung, dass die jeweilige Gefühlslage eines Menschen – Glück, Wut, Trauer – festlege, was und wie er esse. Die Gefühlswelt von Theologie-Studenten berücksichtigen – ob Obrigkeiten während meiner Studienzeit auf diese Idee gekommen wären, weiß ich nicht. Sie sahen es vermutlich nicht als ihre Pflicht an, auf Gefühle von Priesteramtskandidaten  Rücksicht nehmen zu müssen. Deren Gefühlswelt kam in theologischen Lehrplänen nicht vor.

Das Hohelied der Zivilcourage, das wir hin und wieder hätten anstimmen können, war uns nicht gelehrt worden. Man treffe Zivilcourage so selten an, weil sie nicht ansteckend sei und man Gefahr laufe, mit seiner Meinung allein zu bleiben, wird ihr Seltenheitswert begründet.

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