Hallo

Sie nannten ihn HALLO. Wenn sie ihn riefen, ihn etwas fragen oder ihn ärgern wollten, hörte ich sie HALLO sagen. Er hieß nicht wirklich so, aber er nahm es hin, von den Mitschülern so gerufen zu werden. Ich nannte ihn mit seinem richtigen Namen, wenn er sich zu Wort meldete. „Hallo, ich will etwas sagen“, rief er in die Klasse. Ich wusste, warum sie ihn so nannten.

Mit den Händen konnte er sich nur ungenügend bemerkbar machen. Hätte er mit ihnen aufgezeigt, dann hätte ich es oft übersehen. Das lag nicht daran, dass er kleiner war als die anderen Kinder. Er hatte keine Arme. An der Stelle, wo sie normaler Weise aus der Schulter wachsen, saßen bei ihm die Hände. Wenn er auf etwas zeigte, streckte er die linke oder rechte Hand nach vorn. Er war der fröhlichste Junge in der Klasse. Immer hatte er lustige Einfälle. Immer hatte er neue Ideen. In fast allen Fächern glänzte er mit guten Noten. Alle lobten seinen Fleiß und seine Ausdauer.

Konnte er mit seinen Händen schreiben oder ein Heft festhalten? Er konnte es. In der Regel schrieb er nicht mit einem Stift in der Hand, sondern steckte ihn zwischen die Zehen seiner Füße. Er schrieb mit den Füßen. Mit dem rechten und linken Fuß schrieb er so perfekt wie andere mit ihren Händen. Dabei saß er so auf seinem Stuhl, dass er die Füße hoch nehmen und mit ihnen auf der für ihn schräg aufgestellten Tischplatte ins Heft oder auf ein großes Blatt schreiben konnte. Die Schule hatte ihm eine speziell angefertigte Schreibmaschine besorgt. Wenn er auf ihr schrieb, lag er auf dem Fußboden, ließ sie sich  zwischen die Beine stellen und klickte mit den Zehen die Buchstaben oder Zahlen an. Ihm machte das Spaß. Wenn er es geschafft hatte, rief er „Hallo, ich bin fertig“. Ohne Füße wäre er hilflos gewesen. Mit ihnen schmierte er sich ein Butterbrot, öffnete eine Flasche, trank aus einem Glas.

Alle liebten HALLO. Sie wählten ihn zum Klassensprecher. Wenn einer sich beklagte, dass etwas zu schwer oder anstrengend sei, fragten andere: „Was soll HALLO sagen, der es noch schwerer hat?“ Meistens verstummten die Klagen. HALLO bewies, dass man auch dann etwas schaffen kann, wenn es einem nicht so gut geht wie anderen.

Irgendwann verbrachte ich mit der Klasse ein Wochenende in der Jugendherberge. Vier Jungen oder Mädchen teilten sich ein Zimmer. HALLO kümmerte sich darum, dass es keinen Streit gab, und wer mit wem das Zimmer teilte. Wie schaffte er es trotz seiner Behinderung, von allen anerkannt zu werden? „Ich bin nicht behindert“, erwiderte er, als ich ihm sagte, wie sehr ich ihn bewunderte. „Ich mache einiges anders als andere Kinder. Nichts Besonderes.“ Ich schwieg. Am nächsten Morgen beobachtete ich, wie er sich im Waschraum die Haare wusch. Er lag auf dem Boden und wusch sich mit den Füßen den Kopf. Nichts Besonderes.

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