Der Pfad der Tugend

Einmal in der Woche durften wir Seminar-Insassen uns in Gottes freier Natur ergehen. Per Bus wurden wir in selbige transportiert. Mit zu überlegen, wohin die Reise ging, stand uns nicht zu. Wir fuhren „in eines anderen Kutsche“ mit. Die mitbrüderliche Gemeinschaftsfahrt sollte „zur frohen Erfüllung der Berufspflichten beitragen“. Berufsvorbereitung, nicht Freizeitgestaltung war das Ziel.

Dass Theologie-Studenten verbotenen Vergnügungen nachgehen, sich ins pralle Leben stürzen und den Illusionen der Freiheit erliegen könnten, war nicht zu befürchten. Unsere Sehnsucht nach den Verlockungen des Lebens war nicht übermäßig groß – davon gingen die Organisatoren aus. Vom Pfad der Tugend würden wir nicht so schnell abweichen.

Vor dem Zauber der Konsum-Gesellschaft mussten wir nicht übermäßig geschützt werden. Ihr Lockruf erwies sich, verglichen mit dem Wohlstands-verwöhnten Übergrößenformat heutiger Glitzerwelten, als bescheiden. Zudem hatte man uns eindringlich vor den Gefahren verführerischer Lüste und vor der Fragilität dieser Welt gewarnt. Verführt werden konnte nur, wer verführt werden wollte.

Vorsichtshalber hatte die Obrigkeit zwei Regeln aufgestellt, um dem exzessiven Gebrauch von Freiheit vorzubeugen: Eine „allgemeine Regel, dass Fahrten mit privaten Kraftfahrzeugen oder Fahrrädern nicht gestattet“ waren, sowie eine „besondere Regel, dass Spaziergänge oder Wanderungen in Gruppen von wenigstens drei Herren unternommen“ werden mussten. Oberhirtlicher Beschützerinstinkt. „Freiheit, die ich meide“. Man erwartete unsere Loyalität, damit das Theologen-Leben unbeirrt seiner Bestimmung folgen konnte.

Die Strategie der Tugendwächter ging jedoch nicht auf. Nach Ankunft im Freizeit-Biotop vergaßen die meisten Schutzbefohlenen den Schilderwald und zerstreuten sich in alle Richtungen. Ein Privatleben hatten wir uns nicht verbieten lassen. Lebenslust war nicht erloschen. Den Genüssen und schönen Dingen der Welt nicht hörig zu sein, hielten wir für sinnvoll, hinderte uns aber nicht daran, Augen und Ohren offen zu halten für das Leben um uns herum.

Ich nutzte wie auch andere Seminaristen diesen Nachmittag in der Regel dazu, mit dem nächsten Bus zurückzufahren und Besuche zu tätigen oder zu empfangen. Die Cafés in der Innenstadt  machten es uns auf ihre Weise möglich,  Natur zu genießen. Beliebt war ein „Affen-Café“ mit seinen ungewöhnlichen Tier-Käfigen. Aus Briefen, die Mutter mir während meiner Seminar-Zeit schrieb, weiß ich, dass wir gemeinsame Kaffee-Zeiten in der Regel bei den Affen verbrachten.

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