Ein halbes Zimmer

Er ist Lebenskünstler. Gelassenes Lächeln sein Markenzeichen.
Der Urlaub mit dem Bekannten sei positiv verlaufen, erzählt er.
„Bekannter?“ Mit dem er sein Zimmer geteilt habe.
„Sein Zimmer?“ Ein halbes Doppelzimmer habe er gebucht. Aus Kostengründen.
„Und der Bekannte?“ Der sei ihm zugeteilt worden.
„Sie kannten ihn nicht?“ Er habe ihn nicht kennen können.

Meine Ratlosigkeit ignoriert er. Ihm gefällt nicht alles; aber die Schwere der Gewohnheiten, unter der ich gelegentlich leide, ficht ihn nicht an. Der Flut täglicher Imperative, dieses tun und jenes lassen zu müssen, widersteht er. Sein Abwehrreflex ist intakt. Anpassungsdruck? Ihm fremd. Er ist empfänglich für den Augenblick. Er schätzt die Flüchtigkeit des Lebens. Was heute zählt, kann morgen wertlos sein. Was hinter dem Horizont liegt, bedrückt ihn nicht. Im Scheinwerferlicht will er nicht stehen, da es wieder dunkel wird.

Lebenskünstler machen keine Schlagzeilen. Sie brauchen kein ganzes Zimmer. Er bucht ein halbes – unwägbares Risiko für andere, Chance für ihn. Die chinesischen Schriftzeichen für „Krise“ und „Chance“ sind identisch. Er wird das wissen.

Ich schmiede Pläne und will erkunden, was morgen ist. Gedanken an morgen macht er sich morgen. Was er morgen kann besorgen, überlegt er auch erst morgen. Was auch kommen mag, kein Tag dauert länger als 24 Stunden, sagt er. Danach scheint wieder die Sonne. Was er nicht mag, schickt er auf Reisen, weit weg. Ich überlege, was gestern war, und vergesse es nicht. Gestern machte er sich Gedanken an gestern. Heute ist für ihn heute. Er genießt den Tag, der entdeckt werden will.

Ich beneide ihn.

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