Fesseln der Autoritäten

Der Regens hatte das behütete und geschützte Ghetto mit seinen Reglementierungen nicht erfunden. Er hatte nicht die Verbotstafeln errichtet. Die Deutungshoheit lag bei denen, die ihn in sein Amt befördert hatten. Davon waren wir überzeugt. Er war ins Zentrum der Macht berufen worden, sah aber gleichzeitig die Augen anderer auf sich gerichtet. Zumindest hatten wir diesen Eindruck.
Allmachtsträume und Obrigkeitsdenken waren ihm fremd. Mit Hierarchien, die sich auf verlässliche Abläufe stützen und darin die Legitimation ihres Handelns sehen, war er nicht vertraut.
Das abgeschirmte Leben im Seminar verdrängte nicht alle unsere Wünsche nach Außenkontakten. Dem Regens war bewusst, dass in der Zeit, welche seine Schützlinge „draußen“ verbrachten, Interessen und Bedürfnissen nachgegangen wurde, welche die Hausordnung nicht vorsah oder nicht für wünschenswert hielt.
Einengende Anordnungen waren nicht die Sache dieses gütigen Menschen. Sein Wortschatz kam ohne rhetorische Einschüchterungsvokabeln aus. Wir durften davon ausgehen, dass er Anordnungen so umsetzte, dass sie unsere Selbstachtung berücksichtigten. Er wollte uns nicht ersticken lassen unter einem Wust unbedachten Ehrfurcht-Verhaltens.
Wenn er eine „Strafpredigt“ hielt, war herauszuhören, dass er nicht verbot, quer zu den Hierarchien zu denken oder zu handeln. Dennoch schien er als Leiter des Priesterseminars Fesseln von Autoritäten nicht ablegen zu können oder zu wollen, die einer noch höheren Hierarchie-Ebene angehörten.
Wenn er sich innovationsresistent gab, dann, so schien es, wollte er nicht den Zorn über ihm stehender Götter provozieren. Martin Luther hatte zwar die Allmacht der kirchlichen Hierarchie in Frage gestellt, aber das war lange her.
Er hätte sich vermutlich wohler gefühlt, wenn er in den pastoralen Alltag hätte zurückkehren können, aus der man ihn herausgeholt hatte. Wieder eine Aufgabe in der praktischen Seelsorge zu übernehmen, wäre eine Genugtuung für ihn gewesen.
Die Wagenburg des Seminars vereinte und schützte uns – Lenker und Gelenkte. Hin und wieder testeten wir die Toleranzbereitschaft des Burgherrn. Das betrachteten manche als ausgleichende Gerechtigkeit für auferlegte Verzichte. Die Tugenden der Güte und Demut, die den Regens auszeichneten, wurden nicht immer angemessen honoriert.
Natürlich wussten wir, dass Führung Abstand braucht, dass sie Maßstäbe setzen und Forderungen formulieren muss. Zwischen Erkennen und Anerkennen liegen jedoch manchmal Welten.
„Wie lebt ein Priesteramtskandidat?“ Es soll eine kirchliche Werbeanzeige für den Priesternachwuchs geben, in der es heißt: „Jeder gestaltet seine Freizeit individuell. Wir gehen ins Kino, in Konzerte, zum Fußball, zu sonstigen Events.“ Ich kenne die Anzeige nicht. Wenn sie existiert, würde sie Bestimmungen von gestern ad absurdum führen.
Trotz gegensätzlicher Auffassungen haben wir die Behütung-Mentalität jener Jahre ohne erkennbare oder nachwirkende Defizite überstanden. Darüber kann man nachdenken. Gilt auch hier: Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wurde?

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