Neue Erfahrungen

Ob es Wiedergutmachung war, dass ich kurz darauf ein Stipendium für einen Studienaufenthalt im Ausland erhielt? Die Universitätsstadt an der Grenze zwischen  alemannisch-deutschem, burgundisch-französischem Einfluss setzte neue Maßstäbe in meinem studentischen Leben.

Viele Professoren waren Mitglieder des Dominikaner-Ordens. Die Einheit von aristotelisch-thomistischem Denken sowie von Denken und Handeln stand im Vordergrund des Lehrens.

Nicht abfragbares Wissen wurde vermittelt, wie es von einer Quiz-Sendung zur anderen über Fernsehschirme flimmert, sondern Bildung. Lerninhalte mussten nicht Pisa-konform sein und wurden nicht in Punkte-Systeme gepresst. Kunstausstellungen, Konzerte und Theater boten zusätzliche Anregungen, um das Blickfeld der Studierenden zu weiten. Die Universität verfügte über einen Turn- und Fechtsaal. Theologische Studien hatten nicht nur mit dem Himmel zu tun.

Ich wohnte in einem Theologen-Konvikt zusammen mit Theologiestudenten aus anderen Nationen. Alle studierten Theologie und Philosophie. Alle waren eingebunden in eine Hausgemeinschaft. Die Ordnung im Tagesablauf des Hauses wurde nicht von oben herab festgelegt; sie ergab sich aus gemeinsamen Erfahrungen und Überlegungen.

Die Universität pflegte Kontakte mit ehemaligen Studierenden. Deren Wissen um die Notwendigkeit einer zeitgemäßen Entwicklung der Hochschule war ihr wichtig. Ihr Wissen setzte sie in die Tat um. Auch das war für mich in dieser Form neu.

Ich begann mich zu befreien von mir unnötig erscheinenden Beschränkungen, die ich mir oder die andere mir auferlegt hatten. Ich lernte auf Regungen meiner Seele zu achten und diese wichtig zu nehmen. Bisher, so mein Eindruck, hatte ich mich lediglich aus der Ferne wahrgenommen.

Lebensmaximen erfuhren eine neue Rangordnung. Das Ziel, Priester zu werden, war auf unterschiedlichen Wegen erreichbar, nicht nur innerhalb hierarchisch gegliederter Ordnungs-Systeme. Das theologische Klima, das an der Universität herrschte, war geprägt von Hoffnungen und Erwartungen an das Zweite Vatikanum, das in Rom begonnen hatte.

Persönliche Bedürfnisse auf dem Weg zum Priestertum pochten an meine Tür. Selbstverleugnung relativierte sich zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Kritisches Selbst-Verständnis schien bisher weniger wichtig zu sein. Jetzt besann ich mich auf die Stärkung meiner Urteilsfähigkeit. Erfahrungsbereitschaft und Offenheit entdeckte ich neu für mich. Mich der Welt nicht zu verschließen, sondern sie zu erkunden, wurde zur spannenden Aufgabe.

Selbstkritische Bescheidenheit musste ich nicht aufgeben. Aber es deuteten sich Kurskorrekturen an, aus denen sich neue Standorte ergaben. Dass vom römischen Kaiser Marc Aurel überliefert wird, wer die Regungen der eigenen Seele nicht aufmerksam verfolge, werde  nicht glücklich, regte mich zum Nachdenken an.

Die theologische und persönliche Wegstrecke verlief nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Geschehen. Amerikas Präsident Kennedy organisierte einen Blockadering aus Kriegsschiffen um die Insel Kuba. Nikita Chruschtschow ließ  russische Abschuss-Rampen für Mittelstreckenraketen errichten. Kennedy forderte die Sowjets auf, die Raketenstellungen abzubauen.

Würden es die Russen auf einen Atomkrieg ankommen lassen? Die Kubakrise erwies sich als gefährlicher Moment des Kalten Krieges. Was bedeutete das für mich, für mein Studium? Konnte ich das Geschehen in der Welt um mich herum ignorieren? Welche Folgen hatte es für mich? Jedes Studium, auch das der Theologie, forderte dazu auf, hellhörig zu sein bzw. zu werden; es betraf das Hier und Jetzt. Das rückte in mein Bewusstsein.

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