Nach neun Monaten

„Paparazzo“-Skulptur in Bratislava. Foto: Dickers

„Kannst du nicht die Beine bei dir halten? Dein Strampeln nervt mich.“
„Für mich ist es hier genau so eng wie für dich. Ich will raus.“
„Und wo willst du hin?“
„Raus, habe ich gesagt.“
„Und wo geht es hier heraus? Hast du eine Tür entdeckt oder ein Fenster, aus dem du springen kannst?“
„Ich kann nichts sehen. Eingesperrt haben sie uns.“
„Du sollst die Beine bei dir halten. Überall habe ich blaue Flecken. Wenn du noch einmal trittst, drehe ich dir die Schnur um den Hals.“
„Willst du mir drohen? An der Schnur hängen wir beide. Mit gehangen, mit gefangen.“
„Weit wirst du nicht kommen. Mich musst du mitschleppen. Aber ich bleibe hier.“
„Warum willst du nicht raus? Willst du hier überwintern?“
„Ich finde die Unterkunft bequem und gemütlich. Wenn du nicht ständig treten würdest, könnte ich es noch lange aushalten.“
„Wir haben das Quartier für neun Monate gemietet. Dann ist Schluss.“
„Warum soll ich hier raus, wenn es mir gefällt.“
„Wir haben eine befristete Aufenthaltsgenehmigung, wie unsere Vormieter. Mindestens drei Mal sind hier schon welche ein- und ausgezogen.“
„Hör auf. Ich bleibe. Außerdem weiß ich nicht, wo es hier rausgeht.“
„Wo wir hereingekommen sind, wird es auch herausgehen.“
„Und wo ist der Eingang? Kannst du Licht machen und ihn mir zeigen?“
„Derjenige, der diese Unterkunft geschaffen hat, wird dafür gesorgt haben.“
„Gesetzt den Fall, du findest hier raus: Was willst du draußen?“
„ Wenn ich draußen bin, werde ich sehen, was zu tun ist. Wenn wir nicht freiwillig gehen, werden sie uns hinauswerfen.“
„Sag mir, was du draußen machen willst.“
„Die Sonne genießen.“
„Weißt du, wie sie aussieht? Sie wird zu gefährlich sein. Da du lange im Dunkeln gelegen hast, wird sie dich blenden. Dann ist Schluss mit Sonne.“
„Überall siehst du Gefahren. Dass wir seit neun Monaten im Dunkeln sitzen, ist wahrscheinlich nicht gefährlich.“
„Daran haben wir uns gewöhnt. Ich kann dich zwar nicht sehen, aber ich weiß, dass du da bist. Außerdem trittst du mich ständig.“
„Wenn dir das genügt, kannst du bleiben. Ich werde die Wohnung kündigen und mich von dir losreißen.“

Es begann ein Schieben und Drängen. Die beiden Bewohner konnten sich nicht erklären, was mit ihnen geschah.
Auch draußen hatte man wahrgenommen, dass sich drinnen etwas ereignete, und Vorkehrungen getroffen.
Zwei Menschen gaben ihren Wohnsitz auf. Die Sonne war ihnen gnädig gestimmt an diesem Vormittag.
Sie verharrte im gebührenden Abstand zu den Neuankömmlingen. Deren vorsichtiges Blinzeln nahm sie wahr und lächelte mild. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie sich Zeit lassen konnte.
Ihr helles, wärmendes Licht würde sich nach und nach über das neue Leben ergießen, das sie soeben begrüßt hatte.

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1 Kommentar zu "Nach neun Monaten"

  1. Margit Sobek | 2. Februar 2016 um 12:21 |

    Nun, die beiden Neuankömmlinge haben also ihr vertrautes Zuhause verlassen und werden in den folgenden Jahren viel Licht aber auch Schatten erleben; es wird ihnen vielerlei begegnen und „sie werden bleiben im Hause des Herrn immerdar“ (Psalm 23,6).
    Besseres kann ihnen nicht geschehen!

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