Sie ist jung. Orgelbauerin. Autistin

„Lea ist offen und selbstsicher. Sie kommt zu Ihnen.“  Leas Mutter hatte mir das mitgeteilt. Wird nicht behauptet, Autisten würden sich verschließen und nicht auf andere zugehen? Wird nicht unterstellt, sie könnten nicht zuhören, würden Argumente anderer Menschen ignorieren und in einer eigenen Welt leben? Ich war gespannt auf Lea.

Lea widerlegte Vorurteile. Eine sympathische junge Frau stellte sich mir vor. Sie „leidet“ nicht an Autismus, sondern höchstens dann und daran, wenn Menschen in ihrer Umgebung sie nicht so akzeptieren, wie sie ist. Sie teilt mir einfach mit, dass sie Autistin ist – vorbehaltlos, obwohl wir uns noch nicht begegnet sind. „Hat Ihnen jemand gesagt, dass Sie Autistin sind?“ „Ich habe gemerkt, dass ich in mancher Beziehung anders bin als andere.“ „Belastet Sie das?“ „Nein.“

Lea verbirgt ihr Autistin-Sein nicht. Sie hat gelernt, damit umzugehen und es nicht vorrangig als Behinderung zu sehen. Sie verspürt keinen Anpassungsdruck. Sie muss niemandem beweisen, was sie kann oder nicht kann. Sie muss sich nicht mühsam outen, wie es andere Gruppen unserer Gesellschaft praktizieren, die in bunten Umzügen auf sich aufmerksam machen und Toleranz erwarten. Ihr Jung-Sein kommt ihr zugute. Lea ist erfrischend anders.

Sie registriert meine Verwunderung, kommentiert sie aber nicht. Schnell sind wir bei dem, was sie positiv findet an ihrer Veranlagung und ihren Neigungen. Seit ihrer Kindheit zeigt sie musikalische Interessen und ein Verständnis für Musik. Über Gitarre und die Fingergriffe beim Keyboard hat sie den Weg zum Klavier gefunden. Ihre Mutter hat mir berichtet, Lea habe sich innerhalb von vierzehn Tagen selbst Klavierspielen beigebracht. Vom Klavier führte der Weg zur Orgel, vorerst zum Orgelbau. Lea ist faszinierend kreativ.

Sie absolviert gegenwärtig eine Orgelbaulehre bei einem Orgelbauer in Mönchengladbach. Da sie im dritten Lehrjahr ist, stehen demnächst praktische und theoretische Prüfungen an. „Belastet Sie das?“ wage ich zu fragen. „Nein.“ Sie antwortet knapp. „Ich kann mir nichts anderes im Leben vorstellen.“ Davon lasse sie sich nicht abbringen, auch wenn der Weg zum Ziel manchmal holprig sei, ergänzt sie. So, wie sie das sagt, wird deutlich, dass sie erlebt, was sie sagt.

Ich erwähne meine Begegnung mit dem Organisten Reinhold Richter an St. Helena in Mönchengladbach-Rheindahlen. Herr Richter imponierte mir besonders, weil er nicht einfach Orgel spielt und das Instrument beherrscht. Seinem Orgelspiel merkt man an, dass Instrument, Organist und  Kirchenraum im Spiel eine Einheit werden. Alles zusammen muss „stimmig sein“.

Lea bestätigt das. Sie erzählt, dass sie in der Werkstatt z. Zt. eine Orgel für St. Clemens in Bergisch-Gladbach bauen mit Hauptwerk, Schwellwerk und Pedal. Der Architekt des Gotteshauses wurde in die Planung einbezogen. Leas Begeisterung wirkt ansteckend. Sie regt an, mit Herrn Scholz einen Termin zu vereinbaren, bei dem sie mir das vor der Fertigstellung stehende Orgel-Positiv zeigen und mich auf einem Rundgang durch die Werkstatt begleiten kann.

„Begleiten Sie uns bei der Ausführung eines alten Handwerks, in der Kunstwerke entstehen, die durch die Musik zum Leben erweckt werden. Es würde uns freuen, wenn wir unsere Faszination für diese Arbeit an Sie weitergeben könnten.“ So steht es auf der Internet-Seite der Firma. Ich stimme natürlich zu – auch weil ich Leas Faszination spüre. Möglicherweise wird diese durch den Umstand unterstützt, dass man beim Orgelbau, vor allem bei der Schauseite Orgelprospekt nicht an feste Bau- und Maßvorgaben gebunden ist. Hier kann Lea ihre Phantasie mit einbringen.

Wenn Leas Gesprächspartner Gefühle und Gedanken klar formulieren, weiß die junge Autistin, „wo sie mit ihnen dran ist“ und stellt sich darauf ein. Meine Gedankenwelt muss nicht identisch sein mit ihrer. Das gilt auch umgekehrt. Es ist gut, dass Menschen unterschiedliche Anlagen und Verhaltensweisen haben. Damit ergänzen sie sich. Ich persönlich habe gelernt, dass andere Menschen „richtig“ leben, auch wenn sie anders denken und leben als ich. Jeder hat seine Geschichte. Das gilt für Lea. Das gilt für alle Autisten, versichere ich ihr. Manche haben besondere Interessen oder sind zu außergewöhnlichen Leistungen fähig. Keiner von ihnen ist seelisch verkümmert.

Wenn wir jedem und jeder von ihnen mit ihren Fähigkeiten, aber auch mit ihren Grenzen einen Platz im Leben und in der oft standardisierten Welt sichern, profitieren wir alle davon. Das verstehe ich nicht als Höflichkeitsgebot, sondern als Aufforderung.

Die Begegnung mit Ihnen, Lea, hat mich gelehrt:
Ich muss die Augen neu öffnen für Dinge und Ereignisse, die mir bisher bekannt zu sein schienen.
Die Welt ist bunt und voller Wunder, die irgendwie zusammengehören.

Meine Erlebnisse und Erfahrungen kann ich anders als bisher miteinander verknüpfen;  dann gewinnen sie neue Bedeutung für mich.

Ich wünsche Ihnen alles Gute, Lea, auf Ihrem Weg.

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5 Kommentare zu "Sie ist jung. Orgelbauerin. Autistin"

  1. Martin Grad | 10. August 2018 um 11:19 |

    Ich habe selbst miterleben dürfen, wie in unserer Pfarrei eine neue Orgel entstand.
    Ich denke, besser als im Orgelbau kann man handwerkliches Geschick, kreativität und musikalität nicht unter einen Hut bringen. Ich gratuliere Lea zu ihrem hochinteressantem Beruf und wünsche ihr viel Spaß und Freude.

  2. Rita Strodt | 9. August 2018 um 20:40 |

    Tolle Geschichte! Es ist schon sehr beeindruckend, dass jemand, der „anders“ ist, es schafft seine Interessen so zu verfolgen. Ich wünsche Lea für Ihren weiteren Weg alles Gute und dass sie auf Menschen trifft, die sie so annehmen, wie sie ist.

  3. Sibylle Bernhold-Winterhalder | 6. August 2018 um 11:00 |

    Lea ist etwas ganz Besonderes! Möge sie dir ihr innewohnende Kraft und Begabung stets nutzen können – zu ihrem eigenen Wohl und zum Segen für die Menschen in ihrer Umgebung.
    Und ihre Liebe zur Musik soll sie für immer bewahren und weitergeben!

  4. Sibylle Bernhold-Winterhalder | 6. August 2018 um 10:46 |

    Lea ist auf einem hervorragenden Weg! Mögen ihr ihre Begeisterung für die Musik, die starken Seiten ihres „Andersseins“ stets eine Quelle der Kraft sein! Sie wird, wenn sie ihre spezifische Begabung nutzt, Großes schaffen, für sich und füe andere!

  5. Rolf Sobek | 6. August 2018 um 09:17 |

    Ich bewundere Lea. Es ist großartig, welch wunderbaren Weg sie gewählt hat, um zu kommunizieren.
    „Musik ist eine Sprache, wo andere Sprachen enden.“ (Rainer Maria Rilke).
    Lea erzeugt mit ihrem Willen und ihrem Können tiefe Emotionen. Von Herzen wünschen meine Frau und ich ihr weiterhin Gottes Segen!

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